Freitag, 18. Oktober 2019

Arbeitsscheue Fanatiker belästigen Bürger auf dem Weg zur Arbeit. /// Commuters drag Extinction Rebellion protesters off Tube trains | ITV News

Ortega in Texas - launige Einführung in seine Erkenntnistheorie. Bis zu Luhmann ist es noch ein Stück, aber nicht mehr so ganz weit. Ortega starb am 18.10.1955. /// Ortega y Gasset

Kann man aus der Geschichte lernen?


Goethe verlangt zumindest die Kenntnis der Geschichte über einen längeren Zeitraum:
"Wer nicht von dreitausend Jahren // Sich weiß Rechenschaft zu geben, // Bleib im Dunkeln unerfahren, // Mag von Tag zu Tage leben." - Goethe, West-östlicher Divan , Buch des Unmuts
Der Historiker Golo Mann kann sich 1985 in einem Brief nicht so recht entscheiden beim historischen Lernpotential:
… Immerhin das folgende: eine historische Situation ist immer neu, immer anders als alle anderen uns bekannten (wenn wir andere kennen wollen). Der Geschichtsphilosoph Hegel schreibt: Eine laue, flaue Erinnerung hilft nichts im Drange der Gegenwart - oder so ähnlich. Und das ist natürlich auch richtig. Trotzdem kann man aus der Geschichte lernen und man hätte es öfter gekonnt als man es wirklich getan hat.
Aus dem Zustande, den die europäische Zivilisation im späten 19. Jahrhundert erlangt hat, hätte man schliessen können und müssen, dass ein grosser Krieg zwischen europäischen Mächten inskünftig ein Anachronismus und völlig sinnlos und nur noch zerstörerisch wäre; einige klarsichtige Leute haben das auch gewusst, leider aber viel zu wenige. Erst recht hätte man die Folgen des sogenannten Ersten Weltkrieges erkennen müssen; den Verlust der Vormachtstellung Europas und die neue Bedeutung des russisch-kommunistischen Imperiums. Hätte Hitler historische Bildung besessen oder wäre er nicht ein so bösartiger Wahnsinniger gewesen wie er war, so hätte er wissen müssen, dass Deutschland als Weltmacht, an sich unmöglich, im späteren 20. Jahrhundert radikal unmöglich geworden war.
Dagegen Beispiele wie, trotz allem, aus der Vergangenheit, aus schlimmen Erfahrungen gelernt wurde. Im 17., auch noch im 18. Jahrhundert sind die Franzosen innerhalb Europas wie auch ausserhalb die aggressivsten Imperialisten gewesen; sogar ihre grosse Revolution hat daran gar nichts geändert. Aber seit 1815, seit Waterloo, waren sie es nicht mehr. Seitdem ging es ihnen nur mehr um ihre eigene Sicherheit, aber nicht mehr um Expansion. So bis zum heutigen Tag.
Und was Waterloo für die Franzosen, war der sogenannte Zweite Weltkrieg und dessen Ausgang für die Deutschen; ich bin überzeugt, dass sie solchen blutigen Blödsinn, wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nie wieder machen werden. Natürlich wäre es besser gewesen, wir hätten es früher gelernt; aber besser spät als nie.
Dass die Russen bessere Politiker sind als die Nordamerikaner erklärt sich aus ihrer langen imperialen Tradition und der aus dieser Tradition entwickelten Erfahrung. Die Amerikaner sind nachgerade schon lange genug eine grosse Macht, um lernen zu können. Aber sie wollen nicht lernen und kennen ihre eigene Vergangenheit nicht und darum machen sie immer wieder grossen Blödsinn. Der bei weitem beste Aussenminister, den die USA in unserem Jahrhundert hatten, war Henry Kissinger, ein Deutscher, ein Europäer und obendrein ein historisch eminent gebildeter Mensch. Also: Besser ein Aussenminister, der Geschichte kennt, als ein ahnungsloser.
Mit freundlichen Grüssen, Golo Mann (4.11.1985, in FAZ 7.3.03)
Ein Außenminister, der über Vögel und Fliegenfischen schrieb, nicht über Geschichte, war 1914 Edward Grey. 
Bei Ferguson ist zu lesen:
“Britain, could conceive of arguments strong enough to dissuade the others from going to war over the Balkans: the French because they had become uncritically wedded to their alliance with Russia, the British because they could not see a way of deterring Germany that would not egg on Russia and France. If any individual deserves to be blamed personally for the systemic failure that occurred, it was the British Foreign Secretary, Sir Edward Grey. Britain was supposed to be the balancing power in a crisis such as this. On 29 July 1914, Grey warned the German ambassador that Britain would probably intervene if a continental war broke out, but that, if mediation were accepted, ‘he would be able to secure for Austria every possible satisfaction; there was no longer any question of a humiliating retreat for Austria, as the Serbs would in any case be punished and compelled, with the consent of Russia, to subordinate themselves to Austria’s wishes’.15 Two days later he told the Germans that, if they came up with a reasonable proposal, he would support it and would tell France and Russia that, if they did not accept it, Britain would have ‘nothing more to do with the consequences’. But by this time it was too late because the Germans had received the news of the Russian general mobilization, after which the time for diplomacy was over.
Ferguson, Niall. The Square and the Tower (S.196-197). Penguin Books Ltd. Kindle-Version. 
Man muß schon wollen, sonst geht es wahrscheinlich nicht. Der Sozialphilosoph Ortega Y Gasset bleibt halbwegs optimistisch:
" Wir werden aber sehen, daß es geboten ist, von der Vergangenheit, wenn auch keine positive Führung, so doch gewisse negative Ratschläge anzunehmen. Die Vergangenheit kann uns nicht sagen, was wir tun, wohl aber, was wir lassen müssen. "
José Ortega Y Gasset (1883-1955) : Aufstand der Massen, 1930 (dt. 1956, S. 33)
Wirklich? 
Skepsis herrscht zuletzt bei Goethe:
"Die Zeiten der Vergangenheit // Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln.
Was ihr den Geist der Zeiten nennt
Das ist der Herren eigner Geist
In dem die Zeiten sich bespiegeln." - Faust I, Vers 575 ff.
Steven Pinker würde dem nicht unbedingt widersprechen, aber er sieht - im Anschluß an Norbert Elias - einen Zivilisationsprozeß am Verbesserungswerke:
“... ist der Rückgang der Gewalt eine Leistung, die wir würdigen können, und ein Impuls, die Kräfte von Zivilisation und Aufklärung, durch die sie möglich wurde, hochzuschätzen.”
Steven Pinker, Gewalt, Eine neue Geschichte der Menschheit, 2011, S. 1033