Herde und Außenseiter
Kreativität besitzt verschiedene Dimensionen. Ein kreativer Fußballer, der in einer Spielsituation blitzschnell einen neuen Kick praktiziert, hat nichts mit einem kreativen Arzt zu tun. Nehmen wir den Gynäkologen Ignaz Semmelweis. Ihm fiel auf, daß die wohlhabenden Damen mit akademischen Geburtshelfern im Krankenhaus viel öfter an Kindbettfieber starben als die armen Mütter mit Hebammen. Am Anfang seiner Überlegungen stand also ein Vergleich. Warum waren die Ärzte öfters tödlich im Vergleich zu den Hebammen? Semmelweis fand die Kausalität heraus: die Ärzte übertrugen Bakterien von Kranken und Leichen, weil sie die Hände nicht desinfizierten. Diese Saulümmel - darunter auch Rudolf Virchow - wiesen aber jede Belehrung zurück - sie waren ja die Mehrheit - und dieser Semmelweis war nur ein kleiner Assistenzarzt. Der beharrlich blieb gegenüber der Mehrheit, was vermuten läßt, daß er eigensinnig war, also kein Herdentier. Die Mehrheit besteht jedoch immer aus Opportunisten, die alles mitspielen, was gerade angesagt ist. Kreativität im Wissensbereich verlangt neben der Fragekompetenz und dem sorgfältigen methodischen Vorgehen auch Abstand zur Mehrheit, Abstand zur Herde. Jedenfalls, wenn es um mehr geht als um einen neuen Farbanstrich.
Semmelweis mußte seine Eigenständigkeit schwer büßen. Von drei ärztlichen Kollegen wurde er ohne Diagnose in die Psychiatrie eingewiesen, wo ihn Pfleger mutmaßlich töteten.
Die Medizingeschichte zählt Hekatomben an Opfern, ganz wie Goethe im FAUST schildert:
“Hier war die Arzenei, die Patienten starben,
Und niemand fragte: wer genas?
So haben wir mit höllischen Latwergen
In diesen Tälern, diesen Bergen
Weit schlimmer als die Pest getobt.
Ich habe selbst den Gift an Tausende gegeben:
Sie welkten hin, ich muß erleben,
Daß man die frechen Mörder lobt.”
(Faust I, Vor dem Tor)
Foto: Eventuell spendiert die Herde später eine Büste - Semmelweis vor der Semmelweis-Frauenklinik in Wien (Wikip.)