Samstag, 20. März 2021

Ach, so


Das Leben wird nach vorne gelebt und von hinten verstanden. So lautet ein beliebter Weisheitssatz. An dem gewisse Zweifel angebracht sind, was das spätere Verstehen betrifft. Was nachträgliche Konstruktionen sind, und was tatsächlich Einsicht in eine - oft lang - zurückliegende Handlungssituation darstellt, ist sehr schwer einzuschätzen. Vielleicht sogar unmöglich. Immerhin hat man manchmal das Gefühl, es ginge. Aber auf Gefühle ist kein Verlaß. Wolfgang Marx kann man insofern gut folgen:

Auf neuronaler Ebene nämlich entspricht einer Entscheidung die Vektorsumme aller Determinanten, die zum Zeitpunkt des Prozesses wirksam waren. Daraus folgt, dass unter gleichen Bedingungen immer das Gleiche geschieht. Es gibt daher keine Plausibilität für den Glauben, man hätte sich in einer gegebenen Situation auch anders verhalten können, als man es getan hat.

Aber er scheint doch zu wenig zu differenzieren, was die verschiedenen Handlungstypen betrifft. Sind elementare Ebenen einbezogen - wie Sexualität - ist eine rational Kontrolle weniger gegeben als bei Entscheidungen zur Nachmittagsgestaltung. Immerhin, bei Kahneman trifft man auf Möglichkeiten, wie Entscheidungssituationen mit mehr kaltem Kalkül zu unterfüttern sind. Die in verschiedenen Kulturen mehr oder weniger beachtet werden.

Ins Reich der unhaltbaren Spekulation führen Marxens Folgerungen, die er auf wackelige Experimentalbefunde sattelt. Die Moral bzw. das moralische Verhalten speist sich aus Tradition, Regeln und persönlicher Veranlagung. Auch da gilt die Vektorsumme, und sie besitzt einen starken individuellen Einschlag. Ebenso das Bedürfnis nach einem chinesischen Ameisenleben.  

 


Haushaltsgemeinschaften oder Abstammungsverband? Das ist die Frage!

 “Die Grundform europäischer Familienverfassung ist nicht der Abstammungsverband, sondern die Hausgemeinschaft. Die Mitglieder dieser Hausgemeinschaft müssen untereinander nicht notwendig durch Abstammung oder Heirat verwandt sein. Das macht dieses System so flexibel und an veränderte Verhältnisse anpassungsfähig. Es waren vor allem Bedürfnisse der Arbeitsorganisation, die in der europäischen Geschichte zu spezialisierten Formen von Haus- und Haushaltsgemeinschaften geführt haben - in der Landwirtschaft, im gewerblich-industriellen Bereich. … Und auch über den Rahmen der Hausgemeinschaft hinaus haben die gelockerten Abstammungsbeziehungen es möglich gemacht, starke Sozialbeziehungen zu nicht verwandten Personen aufzubauen.” (Mitterauer, Warum Europa? S. 107)

Das ist ein Punkt, der sonst kaum angesprochen wird, aber bis heute eine große Rolle spielt. Kann man die römischen Mit-Kaiser hier einordnen? Nur teilweise, soweit sie nicht Söhne waren wie bei Marc Aurel, mit dem Beinamen “Philosoph auf dem Kaiserthron”. Marc Aurel erkannte die Nichtsnutzigkeit seines Sohnes Commodus, machte ihn aber trotzdem zum Mit-Kaiser und Nachfolger. Außerhalb des Abstammungsprinzips konnte er nicht denken. Später, im west- und im ostfränkischen Bereich - beide christianisiert, beide mit der gleichen Agrarverfassung und mit Lehnswesen - entwickelte sich die politische Herrschaft und die politische Landesgliederung sehr unterschiedlich. In Frankreich entstand eine zentralistische absolute Monarchie, in Deutschland ein tausendgliedriges dezentrales Wahlkönigtum. Einzelne Elemente wie das Lehnswesen und die damit verbundene Hausgemeinschaft haben ihre Wirkungsgrenzen.