Dienstag, 22. Juni 2010

Wolf Doleys, Hauptsache: Studium, Ein Dialog diesseits von Tusculum





Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich diese Bücher an.
Georg Chr. Lichtenberg



Wolf Doleys, Hauptsache: Studium,
Ein Dialog diesseits von Tusculum
(aus: Wolf Doleys, Enfant perdu, Essays)

"Du auf dem SiemensNixdorf-Stand - das ist eine Überraschung!"
"Und umgekehrt - du auf der CeBIT!"
Die beiden begrüßten sich über den Info-Tisch hinweg und sahen sich skeptisch erfreut an. Man war sich damals auf der Schule nicht besonders nahe gekommen; aber Zufälle wie ein gemeinsamer Stau am Biebelrieder Kreuz, das gleiche Krankenhauszimmer nach einem sportlichen Bänderriß oder eben gar Jahre in einer Schule und Klasse sind in der Lage, zwei Individuen miteinander zu verbinden; in einer masse-nervösen Messe-Landschaft schafft das eine intime Insel. Praktisch seit dem Abitur hatte man sich nicht mehr gesprochen. Da erwacht Neugier auf fremde Lebensläufe.

Was wird nach Vektorrechnung, Cäsar-Übersetzung, Eigenkirchenrecht, "Macbeth" auf ShakespeareEnglisch, Celan und den anderen Köstlichkeiten, was wird nach dem Abitur?

"Ich will mich 'mal breit und anonym informieren; die CeBIT ist eine gute Gelegenheit, viele Anbieter gleichzeitig zu besuchen, nicht nur SNI; nach eurer Vor-Messe-Werbung seid ihr natürlich die einzigen für den Mittelständler; was für eine Konfiguration würdest du denn meinem Möbelbetrieb verpassen wollen?"
"Was, du bist bei den Möbeln gelandet? Hattest du nicht Betriebs- oder Volkswirtschaft studiert?"
"Das weißt du noch? Tatsächlich habe ich Betriebswirtschaft angefangen; als mir ein entfernter Onkel aber die Nachfolge und seinen Betrieb dazu anbot, nach Training on the job natürlich, hab' ich das Studium abgebrochen und die Betriebs- und Volkswirtschaft den Akademikern überlassen; ich hab's nicht bereut, Sesselpuper ist nicht mein Temperament, eher hätte ich gleich im Betrieb an fangen sollen. Wie bist denn du zu SNI gekommen, hast du nicht Geographie und Englisch oder so studiert?"
"Ja, stimmt, Werner, allerdings Französisch, durchaus studiert, mit heißem Bemühn, und heiße Doktor gar, sieh'ste hier auf'm Schild, gab aber nach dem Examen keine Stellen mehr für solche Fächer, war dann länger arbeitslos, bis zur Umschulung bei Nixdorf, und klebe hier immer noch, bis mich die Umstrukturierung doch noch erwischt - die damals mit umgeschult haben, ins gesamt viereinhalbtausend hoffnungsfrohe Staatsexaminanden, sind schon alle wieder draußen, hatten schon wie der auf's falsche Bildungspferd gesetzt, du weißt, die Nixdorf-Pleite und der Zusammenbruch der Hardwarepreise. Die Personaleinsparungen laufen noch immer. Bevor ich dran bin, verkauf' ich dir aber noch die passenden Möbel-Work-Stations."
"Sachte, sachte, Michael, bis mir dein Vorname wieder da war, hat's etwas gedauert; erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt - kann man ja auch für unsere Karrieren sagen. Ich weiß noch gar nicht so genau, ob ich was Neues brauche - mehr EDV schafft auch mehr Probleme. Falls ich nichts kaufe oder bei IBM, wie bisher, und du deinen Verkäuferjob gleich verlierst, kannst du ja zu mir kommen und die Betriebsgeographie übernehmen."
"Ich nehm' dich beim Wort, wenn du mir die EDV dazugibst; allerdings, genau betrachtet, kann ich auf die eigentlich ganz gern verzichten - aber im Ernst, ich bin kein schlechter Verkäufer, das hält mich in dem Job hier - sowas muß man nach Abitur und Studium merken."
"Ja, ja, sich erstmal strebend bemühen, die höheren Gefilde anpeilen, Kind, mach' doch noch ein Studium, die Kinder müssen ja immer was Besseres werden, 'was Besseres durch Bildung, das ist vor allem der Mütterfimmel, und bei den kleinen Leuten, und speziell den Beamten, grassiert die Vorstellung, daß du halt ab Abitur und Studium 'was Besseres bist, das alte Schlips-und-Kragen-Syndrom, nicht wegzukriegen, dabei: was sind schon zehn Regierungsräte gegen einen guten Koch?"
"Insofern stellt der spitze Lafontaine unter Beweis, daß auch Spitzenpolitiker dazulernen können.- Das einzige, was mich damals im Geschichtsunterricht wesentlich beeindruckt hat, ich hätte mir das vorher gar nicht vorstellen können, war das königlich-väterliche Bildungsverbot, als der junge Friedrich, der dann der alte Fritz wurde, Interesse fürs Gelehrte zeigte. Aber es hat nichts genutzt, in keiner Richtung, weder hat der junge Fritz auf seinen rü­den Erzeuger gehört, noch war das Ergebnis seines von der Mutter inspirierten Bildungstrips sehr überzeugend: nach dem Anti-Machiavell hat er erstmal Raubkriege geführt, Va-banque-Kriege, die er nur durch das Glück des Spielers gewonnen hat; sein Alter war zwar ungebildet und gewalttätig, aber politisch ein Friedenstäubchen.- Das ist wahrscheinlich der Geburtsmakel von Bildung überhaupt, sie nutzt nichts, immerhin, sie schadet vielleicht auch nicht viel, den Zeitfaktor einmal außer acht gelassen, und wirkt ganz dekorativ, paßt gut zu weißer Rauhfaser, Schleiflack und Richard Sapper."
"Sei nicht ungerecht, Bildung hat `was echt Universelles, paßt auch zu Eiche und Spitzendeckchen, ein wunderbares Passe-partout.-
Wenn für dich eine Veränderung wirklich in Frage kommt, sollten wir vielleicht Kontakt halten; wir sind in der Akquisition und Kundenbetreuung nicht besonders stark. Das macht mir vor allem ein Innenarchitekt, der außer einem sehr guten Diplom nicht übermäßig viel vorzuweisen hat. Wenn du bei Nixdorf überlebt hast, kannst du nicht so schlecht sein wie damals in Mathematik."
"Oder du in Deutsch; du hast recht, Nixdorf war eine Lektion, sozusagen überlebensgroß, learning by doing; Mathematik hab` ich übrigens seit dem Abitur nicht mehr gebraucht; mein haushälterischer Umgang damals mit dem numerischen Stoff war inspiriert durch die Lektüre des Braven Soldaten Schwejk; das hat sich als richtig erwiesen; leider ist diese fächerübergreifende Befruchtung ein Einzelfall geblieben; ich vermute, du hast seitdem auch keine Lyrik mehr auf Alliterationen und ihre strukturbildende Funktion hin abgeklopft oder auktoriale von anderen Erzählern abklamüsert.-
Wie wär's, wenn du mich 'mal in deinen Betrieb einlüdest, ich mach' dir einen EDV-Status mit konkreten Angeboten; vor Ort läßt sich dann auch über alles andere besser reden; ich muß durchaus nicht noch zehn Jahre Computer verkaufen."
"Einverstanden, seien wir nicht akademisch, laß 'uns gleich einen Termin machen, du siehst dir den Laden an und machst mir konkrete Vorschläge; hier gibst du mir einen kurzen Überblick über das, was ihr grundsätzlich für kleine Betriebe anbietet." "Gemacht; wie wär's eigentlich, wenn wir die Betriebsbesichtigung etwas auffüttern würden, so in Richtung Klassentreffen, vielleicht sogar mit Exlehrer-Beteiligung, war ja damals auch ganz nett, vielleicht unter dem Arbeitstitel 'In der Schule lernt man eh bloß Quark' ? Sollte jemand Seneca für bedeutender halten als Marius Müller-Westernhagen, bieten wir natür lich alternativ an: Non vitae, sed scholae discimus."

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Non vitae, sed scholae discimus: „Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir.“ (Moralische Briefe an Lucilius (Epistulae morales ad Lucilium), Buch XVII, Brief 106, 12)