Donnerstag, 18. Oktober 2018

Was kommt nach der Antike in Europa?










Hegel, Philosophie der Geschichte:
“Zweiter Abschnitt: Das Mittelalter
Wenn die erste Periode der germanischen Welt glänzend mit einem mächtigen Reiche endet, so beginnt mit der zweiten die Reaktion aus dem Widerspruch der unendlichen Lüge, welcher das Mittelalter beherrscht und das Leben und den Geist desselben ausmacht. Diese Reaktion ist zuerst die der besonderen Nationen gegen die allgemeine Herrschaft des Frankenreichs, welches sich in der Teilung des großen Reichs offenbart. Die zweite Reaktion ist die der Individuen gegen die gesetzliche Macht und Staatsgewalt, gegen die Subordination, den Heerbann, die Gerichtsverfassung. Sie hat das Isolieren der Individuen und daher die Schutzlosigkeit derselben hervorgebracht. Das Allgemeine der Staatsgewalt ist durch die Reaktion verschwunden; die Individuen haben bei den Gewaltigen Schutz gesucht, und diese sind die Unterdrücker geworden. So trat allmählich der Zustand einer allgemeinen Abhängigkeit ein, welches Schutzverhältnis sich dann zur Feudalverfassung systematisiert. Die dritte Reaktion ist die der Kirche als Reaktion des Geistigen gegen die vorhandene Wirklichkeit. Die weltliche Wildheit wurde durch die Kirche unterdrückt und gebändigt, aber diese ist dadurch selbst verweltlicht worden und hat den ihr gebührenden Standpunkt verlassen, von welchem Augenblicke an das Insichgehen des weltlichen Prinzips beginnt. Alle diese Verhältnisse und Reaktionen bilden die Geschichte des Mittelalters, und der Kulminationspunkt dieser Periode sind die Kreuzzüge, denn mit ihnen entsteht eine allgemeine Schwankung, wodurch aber erst die Staaten zur inneren und äußeren Selbständigkeit gelangen.” Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte
Hegel, Geschichte der Philosophie: “Zweiter Abschnitt.
Scholastische Philosophie
[524] Das ist ein Zeitraum von 600 oder mit den Kirchenvätern von 1000 Jahren. Bei den christlichen Kirchenvätern und später bei den Scholastikern hatte das Philosophieren den selben Charakter der Unselbständigkeit. Aber innerhalb des Christentums ist die Grundlage der Philosophie, daß im Menschen das Bewußtsein der Wahrheit, des Geistes an und für sich aufgegangen ist, und dann, daß der Mensch das Bedürfnis hat, dieser Wahrheit teilhaftig zu werden. Dies ist absolute Forderung und Notwendigkeit. Es muß also möglich sein, daß der Mensch fähig sei, der Wahrheit teilhaftig[524] zu werden; er muß ferner von dieser Möglichkeit überzeugt sein. Um aber das Wahre zu wissen, und damit alle es wissen können, so muß es an ihn kommen als ein Gegenstand, nicht für das denkende, philosophisch ausgebildete Bewußtsein, sondern für das sinnliche, noch in ungebildeter Vorstellungsweise stehende Bewußtsein. Der Inhalt der Idee also muß dem Menschen offenbar werden, das ist das erste; zweitens muß der Mensch fähig sein [aufzufassen], daß für ihn diese Wahrheit ist. Wenn der Mensch aber für das Göttliche empfänglich ist, so muß für ihn die Identität der göttlichen und der menschlichen Natur da sein; und das ist den Menschen auf eine unmittelbare Weise in Christo bewußt geworden. Denn in ihm ist die göttliche und menschliche Natur an sich eins.” Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (http://www.zeno.org/Philosophie/M/Hegel,+Georg+Wilhelm+Friedrich/Vorlesungen+%C3%BCber+die+Geschichte+der+Philosophie/Zweiter+Teil.+Philosophie+des+Mittelalters/Zweiter+Abschnitt.+Scholastische+Philosophie)

“Andreas Speer, Köln: Ein langes Jahrtausend. Ein anderer Blick auf die Philosophie des Mittelalters
Kein Zeitgenosse in jenem Millennium, das wir gemeinhin als „Mittelalter“ bezeichnen, hätte je gedacht, im Mittelalter zu leben. Das Mittelalter ist eine Erfindung. Darin unterscheidet es sich nicht von anderen Epocheneinteilungen. Und doch ist die Erfindung des Mittelalters durch Petrarca und seine Humanistenfreunde von Anfang an negativ konnotiert.
Besonders problematisch und einschneidend sind die Konsequenzen für die Philosophiegeschichtsschreibung. Die mittelalterliche Philosophie – oftmals gleichgesetzt mit der lateinischen Scholastik – wird sowohl von ihren antiken Wurzeln, mit denen sie sich stets verbunden fühlte, wie auch von ihren vielfältigen kulturellen und sprachlichen Traditionen abgetrennt. Denn das Mittelalternarrativ hat seine beschränkte Geltung im Grunde allein für den lateinischen Kulturkreis und begründet von dort aus eine bis heute gültige eurozentrische Lesart dessen, was Philosophie und ihre Geschichte ist, während für die übrigen großen Kultur- und Sprachkreise die Rede vom Mittelalter als historische Kategorie ohne jede Bedeutung ist – es sei denn als der Versuch, den byzantinischen, hebräischen und arabischen Kulturkreis in dasselbe westliche historiographische Narrativ einzuordnen.
Wie kann man diesen historiographischen Fallstricken entkommen? Wie kann man die Philosophiegeschichte eines langen Jahrtausends, das sich in allen Sprach- und Kulturkreisen in Kontinuität mit den antiken Traditionen sieht und diese bis weit in das 18. Jahrhundert hineinträgt, anders erzählen? Zunächst einmal durch den konsequenten Verzicht auf die „Mittelalterkategorie“!”



Die Einteilungen - nicht nur in der Geschichte - lassen immer zu wünschen übrig. Und Petrarca hat eben den Coup gelandet, das Mittelalter als wenig sexy auszuweisen. Glück gehabt. Bleiben wir einfach dabei. Wo es dann genauer zugeht, wird auch die Einteilung aussagekräftiger, bei Hegel und bei allen anderen ebenfalls.




Bild: Wolfgang Behringer, Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, 2010, S. 181

Wann war das Mittelalter, das westeuropäische Zeitalter des Glaubens, zu Ende?
Das kommt auf den Gesichtspunkt an; der dominierende Bezugspunkt des Glaubens, der weite Teile des Alltags und der Verhaltensmuster bestimmt, wird erst in der Aufklärung im 18. Jahrhundert in seiner Allmacht in Frage gestellt.
Hier, bei der Massenverbrennung von Hexen 1587, hat sich bereits die Reformation entfaltet, aber auch die verharrt noch in dem finsteren Aberglauben, den man dem Mittelalter zuschreibt. Das Sündenbock-Ritual aber ist uralt und findet schon im Alten Testament Erwähnung.

Heute, in der Moderne des Westens, vermischen sich apokalyptische Aberglaubens-Denkfigur und pseudowissenschaftliche CO2-Argumentation auf innigste Weise.

John Cage: In a landscape (1948)