Samstag, 19. Oktober 2013

So klärend wie irreführend








Was soll das sein?  Die Sehrinde macht was draus.
(Bild: Bernard Ladenthin / Wiki.)





Die Fenster zu Welt

Der Sehsinn klärt und verdunkelt zugleich. Vorne am Auge regiert die Quantenmechanik, hinten in der Sehrinde der Sinn. Auf die Netzhaut einfallende Lichtquanten werden in elektrische Signale umgewandelt und ins Innere des Kopfes weitergeleitet. Die Sehrinde bastelt daraus Gestalten. Das Material mag noch so diffus sein, im Archiv des Sehhirns gibt es immer eine Gestalt, die dem Datenhaufen von der Netzhaut übergestülpt wird. Ob es paßt oder nicht.

Ein schönes, auch noch attraktives Beispiel dafür liefert Goethe in seinem bekannten Gedicht:

Willkommen und Abschied

(Spätere Fassung, ~1785)Es schlug mein Herz, geschwind, zu Pferde!
Es war getan fast eh gedacht.
Der Abend wiegte schon die Erde,
Und an den Bergen hing die Nacht;
Schon stand im Nebelkleid die Eiche
Ein aufgetürmter Riese, da,
Wo Finsternis aus dem Gesträuche
Mit hundert schwarzen Augen sah.
Der Mond von einem Wolkenhügel
Sah kläglich aus dem Duft hervor,
Die Winde schwangen leise Flügel,
Umsausten schauerlich mein Ohr;
Die Nacht schuf tausend Ungeheuer, 
Doch frisch und fröhlich war mein Mut:
In meinen Adern welches Feuer!
In meinem Herzen welche Glut!
Dich sah ich, und die milde Freude
Floß von dem süßen Blick auf mich;
Ganz war mein Herz an deiner Seite
Und jeder Atemzug für dich.
Ein rosenfarbnes Frühlingswetter
Umgab das liebliche Gesicht,
Und Zärtlichkeit für mich - ihr Götter!
Ich hofft es, ich verdient es nicht!

Doch ach, schon mit der Morgensonne
Verengt der Abschied mir das Herz:
In deinen Küssen welche Wonne!
In deinem Auge welcher Schmerz!
Ich ging, du standst und sahst zur Erden
Und sahst mir nach mit nassem Blick:
Und doch, welch Glück, geliebt zu werden!
Und lieben, Götter, welch ein Glück