Montag, 21. Januar 2013

War er wirklich ein deutscher Voltaire?




Platz 16 mit Italien, Rußland Platz 2 - die Methodik dieses dubiosen Dortmunder Instituts würde mich näher interessieren - ich würde bei Oberstufe-Gymnasiasten einfach mal diesen Wieland-Text nehmen zum Leseverständnis




Christoph Martin Wieland      

Wie man ließt - Eine Anekdote
(...)
Das Unglük, obenhin, unverständig, ohne Geschmak, ohne Gefühl, mit Vorurtheilen, oder gar mit Schalksaugen und bösem Willen gelesen zu werden - oder, wie die meisten Leser, die nur zum Zeitvertreib in ein Buch gucken - oder zur Unzeit, wenn der Leser übel geschlafen, übel verdaut, oder unglüklich gespielt, oder sonst ein Mangel an Lebensgeistern hat - oder gelesen zu werden, wenn gerade dieses Buch, diese Art von Lectüre unter allen möglichen sich am wenigsten für ihn schikt, und seine Sinnesart, Stimmung, Laune, mit des Autors seiner den vollkommensten Contrast macht - das Unglük, so gelesen zu werden, ist nach der Meynung des besagten Autors, keines von den geringsten, welchen ein Schriftsteller (zumal in Zeiten, wie die unsrige, wo Lesen und Bücherschreiben einen Hauptartikel des National-Luxus ausmacht) sich und die armen ausgesezten Kinder seines Geistes täglich und unvermeidlich bloßgestellt sehen muß. Unter hundert Lesern kann man sicher rechnen von achtzig so gelesen zu werden; und man hat noch von Glük zu sagen, wenn unter den Zwanzig übrigen etwan Einer ganz in der Verfassung ist, welche schlechterdings dazu gehört, um dem Werke das man ließt (und wenn's auch nur ein Madrigal wäre) sein völliges Recht anzuthun. Was Wunder also, wenn den besten Werken in ihrer Art, und in einer sehr guten Art, oft so übel mitgespielt wird? Was Wunder, wenn die Leute in einem Buche finden was gar nicht drinn ist; oder Aergernis an Dingen nehmen, die, gleich einem gesunden Getränke in einem verdorbenen Gefäße, bloß dadurch ärgerlich werden, weil sie in dem schiefen Kopf oder der verdorbnen Einbildung des Lesers dazu gemacht werden? Was Wunder, wenn der Geist eines Werkes den Meisten so lange, und fast immer unsichtbar bleibt? Was Wunder, wenn dem Verfasser oft Absichten, Grundsätzen und Gesinnungen angedichtet werden, die er nicht hat, die er, vermöge seines Charakters, seiner ganzen Art zu existiren, gar nicht einmal haben kann? Die Art, wie die Meisten lesen, ist der Schlüssel zu allen diesen Ereignissen, die in der litterarischen Welt so gewöhnlich sind. Wer darauf acht zu geben Lust oder innern Beruf hat, erlebt die erstaunlichsten Dinge in dieser Art. Die ungerechtesten Urtheile, die widersinnigsten Präventionen, die oft für eine lange Zeit zur gemeinen Sage werden, und zuletzt, ohne weitere Untersuchung, für eine abgeurtheilte Sache passiren, wiewohl kein Mensch jemals daran gedacht hatte, die Sache gründlich und unpartheiisch zu untersuchen - haben oft keine andre Quelle als diese. Der Autor und sein Buch werden, mit Urtheil und Recht, aber nach eben so feinen Grundsätzen, nach einer eben so tumultuarischen und albernen Art von Inquisition, kurz mit eben der Iniquität oder Sancta Simplicitas verdammt, wie ehemals in ganz Europa, und noch heutigs Tages in einigen hellen Gegenden unsers lieben teutschen Vaterlandes - die Hexen verbrannt werden. Hier ist das Exempelchen, womit wir diese kleine vorläufige und vergebliche Betrachtung krönen wollen. 
Rousseaus Neue Heloise war vor kurzem ans Licht getreten. In einer großen Gesellschaft behauptete Jemand, Jean-Jacques hätte in diesem Buche den Selbstmord gepredigt. Man hohlte das Buch herbey; man laß den Brief vom St. Preux wo die Rede davon ist. Alle Anwesenden schrien überlaut, man sollte ein solches Buch durch den Henker verbrennen lassen; und den Autor - es fehlte wenig, daß sie nicht auch den mit ins Feuer geworfen hätten. Indessen, da J. J. Rousseau gleichwohl für einen großen Mann passirt, so fanden sich einige, denen es billig dünken wollte, ehe man zur Execution schritte, die Sache näher zu untersuchen. Sie lasen den vorgehenden Brief, und dann den folgenden: und da fand sich, daß gerade dieser Brief ganz entscheidende Gründe gegen den Selbstmord gab, und daß J. J. Rousseau über diesen Punct ganz gesunde Begriffe hatte. Aber die Sage des Gegentheils hatte nun einmal überhand genommen; die Gansköpfe hielten fest, und fuhren fort mit ihrer eignen Dummdreistigkeit zu versichern, Jean-Jacques predige auf der und der Seite seines Buchs den Selbstmord, wiewohl er auf der und der Seite just das Gegentheil that.» 
Was ist nun mit solchen Leuten anzufangen?«  Nichts. 
 »Was soll ein Schriftsteller, der das Unglük hat in einen solchen Fall zu kommen, zu Rettung seiner Unschuld und Ehre sagen?«  Nichts. 
»Was hätte ihn davor bewahren können?« Nichts. 
»Sollte denn kein Mittel seyn?« O ja, ich besinne mich - er hätte selbst ein Ganskopf seyn - oder auch gar nichts schreiben - oder, was das sicherste gewesen wäre, beym ersten Hineingucken in die Welt den Kopf gleich wieder zurükziehen und hingehen sollen woher er gekommen war - 
»Das sind Extrema -«  So denk ich auch.
  Ja, freylich ist der Menschen kurzes Leben 
  Mit Noth beschwert, wie Avicenna spricht.
Mit den Autoren ist kein Mitleiden zu haben - und den Lesern ist nicht zu helfen. Aber gleichwohl wäre zu wünschen, daß die Leute besser lesen lernten."-

Richtig, richtig, Wieland, der du starbest den 20.1.1813 in Weimar, dem Autorennest. Ganz Europa war zwischen Portugal und Rußland von den französischen Invasionstruppen unterworfen worden, erst im Oktober erlebte der größenwahnsinnige Eroberer Napoleon die kriegsentscheidende Niederlage in der Völkerschlacht bei Leipzig, nachdem Rußland ihn bei Borodino abgeschlagen hatte. 70.000 Tote soll die Schlacht gekostet haben, 52.000 fielen bei Leipzig. Auch Weimar war 1808 besetzt und geplündert, Wieland jedoch verschont worden. Er war, zusammen mit Goethe, von Napoleon zum Ritter der Ehrenlegion ernannt worden. Solche Aktionen zierten die französischen Kriegszüge und waren Teil der psychologischen Kriegführung, während gleichzeitig Kunstschätze zusammengeraubt und nach Paris gebracht wurden. Wieland, Pfarrerssohn und Philhellene, lebte und wirkte im deutschen Idealismus, der europäischen Aufklärung und im klassischen Altertum. Er übersetzte Cicero, Lukian, Horaz und Shakespeare. Als Übersetzer war ihm das korrekte Lesen eine große Aufgabe, und natürlich wollte er selbst ernsthaft gelesen sein. 

Das Problem sauberen Lesens, das er in diesem Text anspricht, ist geblieben. Der schlampige Umgang mit der Sprache bedingt auch ein entsprechendes Verstehensdefizit beim Lesen. In den Nachrichten etwa wird jeder schlimme Unfall oder ein Verbrechen mißbräuchlich "tragisch" genannt. Der zeitgenössische Leser kennt den Begriff des Tragischen gar nicht mehr, läse er die ANTIGONE des Sophokles oder irgendeine andere Tragödie, müßte er sich diesen Begriff neu aneignen. 
Und ohnehin ist das Verstehensproblem nicht nur in der Literatur ein fundamentales, weil sich die Millionen Zeicheneinträge in jedem Kopf und ihre Bedeutungsfolien unterscheiden. Daher Luhmanns Bemerkung, daß gelingende Kommunikation unwahrscheinlich sei. 
Dennoch bleibt Wielands Forderung grundlegend: " Aber gleichwohl wäre zu wünschen, daß die Leute besser lesen lernten."