Sonntag, 12. September 2010
Die Flexibilität des Gehirns
Die Rotkehlchen waren fruchtbar und haben ihre Zahl dieses Jahr verdoppelt - dieser Jungvogel war wohl besonders übermütig: er flog gegen die Fensterscheibe und denkt jetzt angestrengt darüber nach, was ihm da passiert sein mag; da Rotkehlchen meist von einem etwa einen Meter hohen Ansitz aus jagen und überwiegend nur kurze Flüge auf Fluginsekten starten, habe ich eine solche Kollision noch nicht beobachtet.
- Die Flexibilität des Gehirns: Menschen sind extrem gesellig disponiert, Mädchen und Frauen noch sehr viel stärker als Jungen und Männer. In der Pubertät noch einmal etwas gesteigert. Die abrupte tägliche Einsamkeit, reduziert auf eine zunächst völlig fremde, feindliche und bedrohliche Person bedeutet für ein Mädchen eine extrem depravierende Erfahrung. Antworten eines Gehirns könnten sein: starke Depressionen, Autoaggression, Verwahrlosung, Lähmung etc. Antwort eines vitalen (wenig vulnerablen) Gehirns kann sein: Neukalebrierung der Sozialkontakte, Anpassung an den extrem reduzierten persönlichen Kontakt und Hinwendung an mediale Sekundärkontakte, Überwindung der Bedrohungsgefühle, Optimierung der reduzierten Möglichkeiten: das kann ein Gehirn, das konnte offenbar das Gehirn Kampusch.
Wikipedia ist ein oft sehr hilfreiches Lexikon, aber nicht sehr zuverlässig: der Verbrecher P. habe K. "häufig Unterricht in Lesen und Schreiben gegeben"; in dieser Aussage kann ich keinen Sinn erblicken : halbwegs intelligente Schüler beherrschen Lesen und Schreiben flüssig im 2. Schuljahr (K. wurde in der 4. Klasse entführt), intelligente Schüler lernen in einer schriftmedialen Umwelt fast schon allein vor der Grundschule Lesen und Schreiben.
Was der Verbrecher Priklopil an Sekundärkontakten im Detail zugelassen hat, das zusammenzutragen wäre einen Proseminarschein wert. Der wäre dann auch mehr wert, als viele Wikipedia-Angaben.
Eine Schule "Priklopil", die keinen einzigen Didaktiker besitzt und nur beliebiges Material bereitstellt, dabei mit massiver Freiheitsberaubung, körperlicher Folter und Isolationsfolter arbeitet, würde natürlich gar nicht erst zugelassen, zurecht selbstverständlich. (Es gibt didaktische Naturbegabungen, die ohne jede Ausbildung einen Stoff didaktisch aufbereiten und pädagogisch sequenzieren können - unter gewalttätigen Psychopathen wohl besonders selten - P. verfolgte vermutlich die Absicht, die Gefangene bei "Spiellaune" zu halten, ähnlich einer Katze, die noch mit der gefangenen Maus spielt, bevor sie sie tötet.)
Das Gehirn K.s war in der Lage, sich neu zu orientieren und anzupassen - das ist die Definition von Intelligenz in nuce.
Von weit her, sehr weit her, erinnert der Kriminalfall K. an mönchisches Lernen, an den alten Hieronymus "im Gehäus". Eine langjährige Extremverknappung von Vitalkontakten im Kinder- und Jugendalter hätte für manche Schüler wohl psychische Krankheitsfolgen, aber die Anpassungsfähigkeit eines genetisch vital angelegten Gehirns kann solche lang andauernden Katastrophen bewältigen. Erstaunlich. Erstaunlich auch, daß ein intelligentes Gehirn diese langjährige Engführung nicht nur überleben, sondern augenscheinlich sogar noch in einem Maße reifen kann, wie das bei Schülern in einem normalen Gymnasium heute selten geworden ist.
Es ist ein sehr alter Gedanke, daß Leiden eine konstruktive Seite besitzt. Die "Spaßschule" hat dazu keinen Zugang.
- Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen: Eines der großartigsten Bücher seit Epikurs "Katechismus".
Interessant der familiäre Hintergrund: Smith entstammt wie Kant einer protestantischen Familie, calvinistisch die schottischen Eltern, pietistisch die Königsberger.
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