Jugendkriminalität
Hinschauen ist nicht gefährlich
11. Januar 2008 An einem kalten Winterabend auf einem Berliner S-Bahnsteig geraten zwei Jungen in Streit, ein Deutscher (sechzehn Jahre alt) und ein Libanese (fünfzehn). Der Jüngere zieht plötzlich ein Messer und sticht zu: in den Oberschenkel, dorthin, wo die Hauptschlagader sitzt. Das messerstechende Kind wird bald festgenommen und geht wenige Tage später wieder in die Schule, die er zuvor nur ungern besucht hatte. Das Schwänzen lässt er auf Anraten seines Anwalts erst mal sein. Die Lehrer sind entsetzt und ratlos, die Schülerschaft ist gespalten. Jene, die schon immer Angst vor ihm hatten, fürchten ihn nun noch mehr, so wie die anderen ihn grenzenlos bewundern. Das Opfer liegt immer noch auf der Intensivstation und ringt mit dem Tode, als der Täter verschwindet, in den Libanon, zur Verwandtschaft. Er taucht irgendwann wieder auf, wird auch verurteilt, trotz alledem aber natürlich nicht abgeschoben. Weil sich das in ein Bürgerkriegsland verbiete. Auch lebe er bereits zu lange in Deutschland, heißt es.
Eine Debatte löste dieser Fall, der in der Mitte der neunziger Jahre, als er geschah, längst kein Einzelfall mehr war, nicht aus, dazu war es doch noch zu früh. Es mussten noch Tausende solcher und ähnlicher Fälle geschehen, mit Tausenden Opfern, bis die ersten Lehrer, Polizisten, Richter und Staatsanwälte in Berlin Alarm schlugen und bis regionale Zeitungen begannen, die überbordende Gewalt unter jungen männlichen Migranten als ein Phänomen wahrzunehmen, das den sozialen Frieden bedroht. Den Frieden in Vierteln, in denen Polizei und Schule an Ansehen verloren haben, während sich in gleichem Maße unter den Bewohnern Resignation breitmachte. Wer konnte, zog weg.
Folgenschwere Versäumnisse
Die Motive der Berliner Polizisten, Juristen und Pädagogen, das verordnete gehorsame Schweigen zu brechen, sind weder von Wahlkämpfen bestimmt noch von politischen Karrieren, denen allzu viel Realitätssinn bekanntlich eher schadet als nutzt. Sie begründen es mit ihrem Gewissen, weil es längst zu viele Opfer gibt und unter diesen auch noch meist solche, die fast noch Kinder sind - wie ihre Angreifer, mit denen sie zumeist in engster Nachbarschaft leben. Und die Schweigebrecher tun es auch für sich selbst: gegen den Frust, den Erfolglosigkeit auslöst, und die Zumutung, in folgenschwere Versäumnisse verstrickt zu werden, die engagierten Menschen den Schlaf rauben kann.
Dazu haben sich jetzt die Berliner Jugendrichter Kirsten Heisig und Günter Räcke mit Polizisten, Staatsanwälten, Fürsorgern und vielen Lehrern aus Nord-Neukölln verbündet, um gemeinsam nach Möglichkeiten zu suchen, junge Schläger wieder auf den rechten Weg zu bringen. Sie haben weder auf durchaus nötige zusätzliche Richter, Fürsorger und Polizisten gewartet und auch nicht auf den Segen einer Senatorin, die öffentliche Debatten mehr zu fürchten scheint als die Gewalt im öffentlichen Raum. Frau Heisigs Ziel ist es, die Delinquenten eine Woche nach der Tat im Gerichtssaal zu haben. Es werden keine Intensivtäter sein, sondern Jungen, die am Anfang einer kriminellen Karriere stehen. Der sofort verordnete Strafarrest hilft vielleicht dabei, die Endlosschleife von Verbrechen und Strafe und neuem Verbrechen zu durchbrechen, in die in Berlin seit Generationen zu viele junge Migranten geraten. Den Lehrern haben die Juristen zugesichert, chronisches Schuleschwänzen künftig nicht mehr als Bagatelle abzutun, sondern zur Not unwilligen Eltern sogenannte Erzwingungshaft anzudrohen, wenn diese Bußgelder nicht zahlen und weiterhin meinen, nicht sie, sondern der Staat sei verantwortlich für ihre missratenen Söhne.
Raubzüge statt Schulnoten
Der Verweis auf Chancenlosigkeit im deutschen Bildungssystem hat bisher zu viel entschuldigt, was eigentlich nicht hinnehmbar ist. Es ist viel Geld und noch mehr guter Wille aufgeboten worden, um enorme Bildungsdefizite junger Migranten aus türkischen und arabischen Familien (sie führen die Gewaltstatistik unübersehbar an) zu beheben. Aber das läuft ins Leere, wenn die Jungen sich all dieser Mühen entziehen. Wenn etwa nur zwei Prozent junger Intensivtäter eine Berufsausbildung machen, bedeutet das auch, dass eine Vielzahl von ihnen sich frühzeitig anderweitig Respekt und Ansehen verschafft hat: mit Raubzügen, dicken Autos und dem Faustrecht, das gute Schulnoten allemal aufzuwiegen scheint. Das Jugendstrafrecht kann solchen Fehlentwicklungen nicht beikommen, die Durchsetzung der Schulpflicht wiederum ist Lehrern allein nicht abzuverlangen.
Kirsten Heisig gehört zu denen, die Öffentlichkeit für hilfreich halten, weil sie erzwingt, immer tiefer in die Ursachen dieser katastrophalen Entwicklung vorzudringen. Sie fürchtet weniger die Schelte übergeordneter Behörden, dafür umso mehr die Eskalation auch verbaler Gewalt, die auf Messer- und Faustattacken bis in den Gerichtssaal folgt. Sie und viele ihrer Kollegen registrieren nicht nur eine zunehmende Brutalität, sondern auch handfesten Hass auf Deutsche. Wenn sich junge Nazis in Berlin-Lichtenberg wieder einmal an einem Schwarzen vergreifen, wissen wir alle, was das ist: Rassismus. Was aber heißt es, wenn arabische und türkische Straftäter zu Protokoll geben, sie hätten es diesem „Scheißchristen“ oder diesem „Schweinefleischfresser“ endlich mal zeigen wollen?
Spirale der Gewalt
Es gibt in den Vierteln von Berlin-Kreuzberg, Neukölln oder Wedding inzwischen auch eine verunsicherte Bevölkerung, die dem Staat und seiner Durchsetzungsfähigkeit misstraut. Die hinter vorgehaltener Hand einander zuraunen, das nächste Mal setzten sie sich nicht den Folgen einer Zeugenaussage vor Gericht aus - den Einschüchterungsversuchen der Familienclans aus der Nachbarschaft, den unverhohlenen Drohungen der Brüder und Onkel. Das nächste Mal, so kündigen sie trotzig an, setzten sie ihr Wählerkreuzchen bei der richtigen Partei, einer radikalen, und statt zur Polizei gingen sie künftig an den nächsten Imbiss zu den Glatzköpfen, die regelten das vielleicht besser. Auch diese fatale Entwicklung gilt es aufzuhalten.
Wenn sich jetzt, in Folge dieser heftigen Debatte um Strafrecht und Migrantensöhne, einige statistische Befunde als dem wirklichen Leben entnommene Tatsachen durchzusetzen beginnen, besteht sogar die Hoffnung, alsbald über die familiäre Erziehung dieser Jungen (oder deren Nichterziehung) streiten zu können. Denn die prügelnden Väter türkischer und arabischer Straftäter spielen in dem nun klarer werdenden Bild von verfehlter Kindheit und Jugend fast nie eine Rolle. Doch regelmäßige schwere Züchtigung mit Fäusten und Geräten sind in diesem Milieu keine Seltenheit. Eine deutsche Familie hätte längst Sanktionen zu befürchten. Wer diese Mittel bei Migranten, aus welchen Gründen auch immer, nicht anwendet, befördert die bisherige Spirale der Gewalt. Vor allem aber versagt er Zehntausenden Kindern den Schutz, den ihnen das Gesetz zusichert.
Text: F.A.Z., 11.01.2008, Nr. 9 / Seite 33
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen