Freitag, 21. März 2008

Psychosomatik, Bindungsforschung, Fremdbetreuung

Psychosomatik, Bindungsforschung
Wohl dem, der wohlbehütet aufwächst
Über die Gene hinweg: Frühe Lebenserfahrungen beeinflussen entscheidend, wie wir auf Stress reagieren

Die Erfahrungen, die ein Mensch in der frühen Kindheit macht, beeinflussen die Gesundheit im Erwachsenenalter durchaus erheblich und nachhaltig. Was der vor hundert Jahren in Heidelberg geborene Psychosomatiker Thure von Uexküll zeitlebens mit seinen Mitteln zu zeigen versuchte, war nun auf der Jahrestagung der beiden großen deutschen Psychosomatik-Gesellschaften in Freiburg eines der großen fachgebietsübergreifenden Themen.

Tierstudien liefern mittlerweile Anhaltspunkte dafür, dass das Verhalten der Mutter gegenüber ihrem Nachwuchs sogar Effekte auf dessen Erbgut hat. Michael Meaney, klinischer Psychologe und Neurobiologe an der kanadischen Universität McGill in Montreal, stellte auf der Tagung die Ergebnisse seiner Forschung vor. An Ratten untersuchte er, inwiefern sich mütterliche Fürsorge auf die Stresstoleranz der Kinder auswirkt. Dabei beobachtete er, dass die Nager, die von ihrer Mutter häufig abgeleckt worden waren, weniger ängstlich und anfällig für Stress waren als jene, die von einer weniger zugewandten Mutter aufgezogen wurden - also auch seltener in den Genuss der mütterlichen Brutpflege kamen. Die Intensität der Stressreaktion, die ein Tier im jungen Alter zeigte, blieb ihm dann sein Leben lang erhalten.

Meaney konnte die molekularen Mechanismen, die dieser Beobachtung zugrunde liegen, verfolgen: Leckt die Rattenmutter ihren Säugling ab, wird bei diesem mehr Serotonin freigesetzt, ein Botenstoff, der Veränderungen in den Nervenzellen einer Hirnregion auslöst, dem Hippocampus. Dieses Areal spielt eine wichtige Rolle bei der Regulation des Stresshormons Cortisol. Die durch das Serotonin ausgelöste chemische Veränderung in den Nervenzellen des Hippocampus besteht darin, dass bestimmte Stellen im Genom - ausgewählte Cytosin-Basen - von ihren Methylresten befreit und so aktiviert werden. Dadurch können Rezeptoren produziert werden, an denen das Stresshormon Cortisol andockt. Die Stressreaktion wird so gehemmt. Je mehr dieser Rezeptoren vorhanden sind, umso empfindlicher reagiert der Hippocampus auf Cortisol und umso intensiver ist die Hemmung der Stressreaktion. Umgekehrt sind bei den weniger umsorgten Jungratten die besagten Stellen des Erbguts mit Methylgruppen besetzt, wodurch die Genfunktion blockiert ist. So werden weniger Rezeptoren produziert, an denen das Stresshormon andocken kann. Die Stressreaktion ist ausgeprägter.

Das mütterliche Verhalten hat bei der Ratte also direkten Einfluss auf das Erbgut des Nachwuchses, ohne dass sich die Abfolge der Bausteine im Erbmaterial verändert, ein Beispiel für Epigenetik.

Meaney konnte nachweisen, dass jene jungen Nager, die zwar von einer wenig fürsorglichen Mutter geboren, aber von einer zugewandten Art Adoptivmutter aufgezogen wurden, ähnlich stressresistent waren wie jene, die von einem treusorgenden Muttertier geboren und aufgezogen wurden. Das belegt einmal mehr: Die Anfälligkeit für Stress ist - zumindest bei Ratten - keineswegs genetisch fest verankert, sondern wird durch das Verhalten des Tieres bestimmt, das die Aufzucht übernimmt. Und das ist noch nicht das Ende. Die Jungen von Rattenmüttern, die wenig abgeleckt wurden, werden selbst wieder zu weniger zugewandten Müttern. Offenbar wird Fürsorgeverhalten bei den Nagern so über Generationen weitergegeben.

Ist das Schicksal des Nachwuchses von weniger fürsorglichen Müttern also von vornherein besiegelt? Offenbar doch nicht. Die kanadische Forschungsgruppe hat gezeigt, dass der Effekt reversibel ist. Sie entfernten beim benachteiligten Nachwuchs mittels pharmakologischer Substanzen dauerhaft die Methylgruppen an der entscheidenden Stelle des Erbguts und erreichten so eine verringerte Stressanfälligkeit. Das Verhalten der Mutter wiederum sei dadurch bestimmt, in welcher Umwelt sie sich und ihren Nachwuchs behaupten müsse, sagte Meaney. Wenig fürsorgliches Verhalten zeigten jene Rattenmütter, die in einem bedrohlichen Umfeld lebten, während jene in einer sicheren Umwelt ihrem Nachwuchs gegenüber zugewandter seien.

Manche Parallelen zum Menschen liegen auf der Hand. Es ist leicht vorstellbar, dass jene Kinder, die wenig fürsorglich behandelt werden, später insgesamt anfälliger sind als jene aus wohlbehütetem Hause. Den wissenschaftlichen Nachweis dafür zu erbringen, dass das Verhalten der Eltern tatsächlich ursächlich verantwortlich ist für die spätere Fähigkeit des Kindes, mit Stress umzugehen, ist jedoch ungleich komplizierter.

Das ist eines der Ziele der sogenannten Bindungsforschung. Die kanadische Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth, neben ihrem Lehrer John Bowlby die Begründerin der Bindungsforschung, beobachtete schon in den siebziger Jahren tatsächlich auch beim Menschen systematische Unterschiede im Umgang der Mütter mit ihren Babys. Sie entwickelte ein Untersuchungsparadigma, das es erlaubte, die Bindungsqualität zwischen Mutter und Kind genau zu erfassen. Dabei beobachtete sie, wie Einjährige reagieren, wenn Mütter nach einer Trennungsphase wieder zu ihnen zurückkehren. Kinder, die ihre Mütter nach der Trennung freudig begrüßten, nannte Ainsworth "sicher gebunden". Andere zeigten ein widersprüchliches Verhalten bei der Zusammenkunft, sie reagierten "unsicher-ambivalent" oder gar "unsicher-vermeidend", wenn sie sich von der Mutter abwandten.

Die drei Bindungsgruppen sind nicht nur im Verhalten, sondern auch in ihrer Physiologie unterschiedlich. "Die Menge des Stresshormons Cortisol im Speichel der unsicher-vermeidend gebundenen Kinder nach der Trennung ist im Vergleich zu den sicher gebundenen Kindern deutlich erhöht, obwohl man ihnen den Stress äußerlich nicht anmerkt", sagte Carl Scheidt von der Universitätsklinik Freiburg. Die frühen Erfahrungen stellten langfristige Weichen für die Stresstoleranz. Bei Patienten etwa mit Abhängigkeitserkrankungen, Ess- oder Schmerzstörungen weisen Scheidt zufolge etwa achtzig Prozent ein unsicheres Bindungsmuster auf, in der Normalbevölkerung sei es dagegen nur rund ein Drittel. "Nicht jeder Mensch, der unsicher gebunden ist, wird krank, aber umgekehrt ist bei den genannten Patientengruppen ein unsicheres Bindungsmuster sehr häufig", sagte der Psychosomatiker aus Freiburg. Insbesondere unsicher-vermeidend gebundene Menschen unterdrücken häufig ihre Affekte in Stresssituationen, reagieren aber verstärkt mit körperlicher Anspannung, die anhand des Muskeltonus gemessen wird, so beispielsweise bei Spannungskopfschmerz-Patienten.

"Eine sichere Bindung ist eine entscheidende Voraussetzung für eine gesunde körperliche, soziale, emotionale und kognitive Entwicklung", sagte Karl Heinz Brisch von der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er hat ein Programm entwickelt, das Eltern ab der 20. Schwangerschaftswoche und bis zum vollendeten ersten Lebensjahr des Kindes darin unterstützt, eine sichere Bindung aufzubauen. Ein Präventionsprogramm gibt es auch am Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie in Heidelberg unter der Leitung von Manfred Cierpka. Die Eltern werden dafür sensibilisiert, die Signale ihres Kindes wahrzunehmen und angemessen darauf zu reagieren. INKA WAHL

Text: F.A.Z., 20.03.2008, Nr. 68 / Seite 44

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