Freitag, 11. Juli 2008

Krippenbetreuung sollte nicht schöngeredet werden

Krippenbetreuung sollte nicht schöngeredet werden 

Die Risiken einer unreflektierten Trennung von Mutter und Kind durch frühkindliche Betreuung müssen für jedes einzelne Kind bedacht werden. 
Von Ann-Kathrin Scheerer 
Es ist alarmierend, dass Millionen von Kindern im Alter von acht Wochen bis 36 Monaten in Krippen betreut werden, deren personelle Ausstattung und Ausbildung bei weitem nicht ausreichen, um ihnen die nötige zeitliche und emotionale Aufmerksamkeit zu bieten. Tagesbetreuungsplätze für Kleinstkinder dienen dazu, dass Mütter und Väter sich frühzeitig von ihren Kindern trennen können. Je früher im Leben diese Trennungen stattfinden, je abrupter sie vollzogen werden, je länger am Tag sie dauern, je wechselhafter die Betreuungsbeziehungen und je größer die Gruppen von Kindern sind, desto bedeutungsvoller und riskanter sind die emotionalen Langzeitfolgen und psychischen Tiefenwirkungen. Dabei sind es nicht unbedingt die Trennungen oder die kindliche Trauer als solche, die schädlich wirken - beides kann in keinem Kinderleben vermieden, aber durch umsichtige Betreuung und bewusste Gestaltung anerkannt und gemildert werden. Vielmehr sind es die Verleugnung, die Bagatellisierung und Nichtwahrnehmung von Trennungsschmerz und Verlustangst, die Krippenbetreuung zu einem psychisch riskanten Unternehmen für die Betroffenen und für die Gesellschaft insgesamt machen. Denn die frühen Beziehungserfahrungen der Kinder, das Erlernen des Gefühlsausdrucks, die Qualität ihrer emotionalen Bindungen zu den Eltern legen die Grundlage für psychische Gesundheit, für die Fähigkeit, befriedigende Beziehungen einzugehen und die eigenen widersprüchlichen Affekte und Antriebe zu integrieren. Wer in Kinderkrippen die morgendlichen Abschiedsszenen und Anklammerungsgesten des Kindes, das sich noch nicht trennen möchte, beobachtet, die oft auf eilige Eltern und überbeschäftigte Erzieherinnen treffen, oder wer die in sich zurückgezogenen Kleinkinder sieht, die sich tagsüber häufig selbst stimulieren oder beruhigen müssen, wird bemerken, dass hier etwas psychisch Gefahrvolles vor sich geht, oder er muss, um nicht mitzuleiden, seine Wahrnehmung abschalten. Genau das tun viele Krippenkinder. Sie funktionieren und lernen, ihre Gefühle zu unterdrücken, um sich dem kollektiven Gruppenleben anzupassen. Für die seelische und körperliche Entwicklung ist es dabei natürlich ein erheblicher Unterschied, ob ein Kind mit acht Wochen noch weit vor der Möglichkeit der differenzierten Affektwahrnehmung oder mit zwei Jahren, wenn es schon "nein" sagen und Sätze verstehen kann, in die Krippe kommt und funktionieren muss. "Funktionieren" im Kleinkindalter heißt, dass es bei Trennung von den Eltern nicht mehr weinen soll, dass es bei Einsamkeit lieber still als laut werden, dass es sich schnell beruhigen lassen soll. Diese "guten" Krippenkinder sind aber oftmals auch die psychisch Überforderten, sie haben noch keine Ausdrucksmöglichkeit für ihren Kummer oder Stress gefunden. Beides bleibt in ihrem Körper stecken, der dann, oft verzögert, also erst in der Familie, körpersprachliche Symptome zeigt. Die höhere Infektanfälligkeit von Krippenkindern ist durchaus als Ausdruck psychischer Anspannung und Überforderung durch Trennungsstress und Unterdrückung des Affektausdrucks zu verstehen. Krippenkinder brauchen "nach der Arbeit", also dem anstrengenden Krippenaufenthalt, viel beruhigende und ausgleichende Zuwendung zur Stärkung der Eltern-Kind-Beziehung. Je jünger die Kinder sind, desto mehr sind sie auf die verlässliche körperliche Anwesenheit einer vertrauten Person angewiesen. Kinder freuen sich über das Wiedererkennen von Vertrautem. Wenn ihre Erwartungen des Guten, die sich nur durch scheinbar ewige Wiederholungen bilden und festigen, erfüllt werden, werden sie selbstbewusst und selbstzufrieden, ja glücklich. Seele und Körper werden zusammengehalten durch Blickkontakt und begleitende Verbalisierungen. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass die Person, die den Blickkontakt hält und mit dem Kind spricht, ohne eine innere Verunsicherung des Kindes beliebig austauschbar ist. Auch die Großmutter, der Tagesvater, die Krippenerzieherin, die das Kind von früh auf kennt und betreut, ist für das Kind als Nichtmutter identifizierbar. Wenn sie oder er als "Mutter" anerkannt wird, ist das eine gute neue Bindung, kann aber mitunter auch entfremdende Folgen für die Beziehung zur leiblichen Mutter haben, besonders wenn diese mit Eifersucht reagiert. Die Idealisierung von Mutterschaft zeigt sich im Glauben, Muttersein sei das wichtigste Weiblichkeitserlebnis überhaupt; aber zu glauben, man könne Mutter sein, ohne körperlich und emotional anwesend zu sein, kommt einer Mystifizierung der biologischen Mutterschaft gleich. "Mutter" zu sein bedeutet, viel Zeit mit dem Kind zu verbringen, seine Bedürfnisse wahrzunehmen und zu befriedigen, seine Gefühlskreisläufe zwischen Anspannung und Entspannung durch körperlich erfahrbare Anwesenheit aufzufangen. Das ist anstrengend, manchmal langweilig und erfordert auch Verzicht und Selbstverleugnung. Die "mütterliche" Zeit (ganz gleich, ob es sich um die der biologischen oder betreuenden Mutter handelt) besteht aus Wiederholungen und rhythmischer Erwartungserfüllung. Daher wirkt sie im Vergleich zur beruflichen Arbeitszeit, die aus Zeitpunkten und Zielen besteht, wie Zeit im Stillstand. Natürlich macht das die beruflich engagierte Mutter nervös, aber das vorübergehende Leben in diesem Kreisverkehr von Mutter, Vater, Kind ist für die Etablierung des kindlichen Ewigkeitsgefühls und seines Selbstwirksamkeitserlebens unverzichtbar. Ohne die Erfahrung von Omnipotenz und Selbstwirksamkeit in der ersten Lebenszeit ("Mein Wunsch und mein Schreien bewirken, dass Mutter oder Vater auftauchen und das, was ich schon kenne und erwarte, erfüllen") drohen Depressionen, schon heute die "seelische Volkskrankheit Nummer eins", oder trotzig-wütende Entgleisungen. Die bisher einzige Langzeitstudie, die die Auswirkungen von Krippenbetreuung auf die spätere Entwicklung von Schulkindern beforscht hat, zeigte einen Zusammenhang zwischen frühem Beginn und langer Dauer der außerfamiliären Betreuung und "auffälligem" Verhalten im Grundschulalter. Hirnforscher bestätigen, dass aggressive Dispositionen durch gute Bindungserfahrungen psychisch integriert, durch mangelhafte frühe Bindungen aber potenziert werden. Wenn Krippenbetreuung nicht schaden soll, muss sie vom Kind als Erweiterung der familiären Beziehungen erfahrbar werden, und das bedeutet, dass Eingewöhnungen viel Zeit brauchen. Je jünger das Kind ist, desto verlässlicher muss das Beziehungsangebot gestaltet sein, desto kleiner die Gruppen von bedürfnisgleichen Babys. Gute Krippen nehmen nicht gleichzeitig mehrere acht Wochen alte Babys auf, wenn das Personal dafür nicht ausreicht. Gute Krippenbetreuung kann nicht heißen, dass eine Betreuerin für acht oder mehr Zweijährige zuständig ist, die fast alle noch Windeln tragen und viel Zeit auf dem Schoß verbringen wollen. Auch Zweijährige sind noch darauf angewiesen, der "Liebling" zu sein, der möglichst ungehinderten Zugang zu "seinem" Erwachsenen beanspruchen darf, wenn es plötzlich nötig wird. Kinder sind erst mit etwa drei Jahren zu Empathie mit anderen Kindern und folglich auch erst dann zu freiwilligem Verzicht und zum längeren Warten fähig. Vorher befinden sie sich im vorempathischen Stadium der Affektansteckung. Auch deshalb ist es für den Krippenbetrieb so wichtig, dass die Kinder nicht mehr weinen. Häufig weinen andere aus Ansteckung gleich mit, und jedes Einzelne brauchte individuelle Beruhigung und vor allem die Anerkennung seines Kummers. Wie schnell Kummer, Trauer, Trennungs- und Verlustangst bei Krippenkindern übersehen werden, wird bei genauer Beobachtung erkennbar: Der kleine David kam mit 13 Monaten in die Krippe und gilt nach nunmehr drei, vier Monaten als "gut eingewöhnt". Seine Mutter verabschiedet ihn am Morgen schnell, sie ist in Eile und gibt ihm einen Kuss, dann ist sie weg. David reagiert auf die Abschiedsgesten seiner Mutter nicht, steht für einige Sekunden mit hängendem Kopf und hängenden Armen an der Tür. Dann steigt er auf ein rotes Plastikauto, rast, so schnell er kann, damit im Raum herum und fährt dann der Betreuerin, die gerade andere Kinder in Empfang nimmt, ans Schienbein. Sie sagt "Aua!", und David lacht. Er macht es noch mal und noch mal, das "Aua" der Erzieherin hat ihm gefallen. Offenkundig artikuliert die Betreuerin seinen Abschiedsschmerz, für den er selbst keine direktere Ausdrucksmöglichkeit hatte und der nur in wenigen Sekunden an seiner Körperhaltung sichtbar war. Später wird David ein kleines Mädchen von einem Stuhl schubsen, das zu weinen beginnt. Er wird von der Erzieherin ermahnt, das nicht zu tun. Er lacht darüber und boxt ein weiteres Kind auf den Arm. Es ist abzusehen, dass David seine tägliche Trennungsaufgabe, für die er weder Zeit noch Einfühlung bekommt, weiterhin aggressiv bewältigen wird. Er entäußert sich seines Schmerzes und lindert damit seinen innerseelischen Stress. Damit ist er psychisch weniger gefährdet als das stille Kind, das in seiner Desorientierung nach der Trennungsszene übersehen wird, weil es aus Alters- oder Temperamentsgründen kein extrovertiertes Verhalten zeigen kann. Wenn die aggressive Abwehr von Trennungs- und Verlustangst nicht als solche erkannt und mit Hilfe einfühlsamer Erwachsener in treffende Worte gefasst wird, entwickelt sie sich dann schnell zu einem Verhaltensmuster, das sich durch die ausgrenzenden Reaktionen selbst verstärkt.
Die Autorin ist Diplom-Psychologin und Psychoanalytikerin in Hamburg. Text: F.A.Z., 10.07.2008, Nr. 159 / Seite 8

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