Samstag, 12. Juli 2008

Potsdam oder: Der toleranzfördernde Eklat

Professor Dr. Heinz Kleger, Potsdam, FAZ-Leserbrief
Potsdam oder: Der toleranzfördernde Eklat

Zum Artikel "Rückschlag für das Toleranzedikt" (F.A.Z. vom 5. Juni): Die blockierten Vorträge von Frau Steinbach an der Universität Potsdam sind kein Rückschlag für das Potsdamer Toleranzedikt - im Gegenteil. Sie zeigen deutlich, was Sinn und Zweck dieses vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft geförderten und vom Verein Pro Wissen in Kooperation mit der Stadt getragenen Projektes ist. Bisher galt das Vorurteil, nur die "Ostdeutschen", die "unteren Schichten", die "Problemgebiete" und so weiter hätten Toleranzprobleme, vor allem natürlich mit den Fremden und gegenüber den jeweils Anderen. Tatsächlich ist Potsdam als ehemalige Grenz- und Frontstadt, in der vieles geheim war, ein interessantes Labor, wo verschiedenste Herkünfte, Prägungen, Mentalitäten und Perspektiven aufeinandertreffen. Das kontrastreiche Potsdam erfindet sich aber auch neu. Die breite Diskussion über ein Toleranzedikt über alle Differenzen, Stadtteile und gesellschaftlichen Bereiche hinweg könnte dafür eine zivile Basis werden. Man kommt dann zu einem der vielen Trotzdem-Sätze, welche eine zivile Praxis ausmachen: Toleranz trotz Unterschiedlichkeiten, Solidarität trotz Eigennutz, Common sense trotz Spezialisierungen, und so weiter.

Dass nun ausgerechnet die jüngsten Vorfälle an der Universität eine solche Diskussion über Toleranz bis in die Leserbriefseiten der Tageszeitungen hinein ausgelöst haben, hätte niemand erwartet. Dies ist zwar überraschend, aber kein Rückschlag, sondern insofern ein Fortschritt im Gesprächsprozess, als dieser Testfall zeigt, dass die Meinungsfreiheit in einer liberalen Demokratie allen Beteiligten viel zumutet (könnte man zum Beispiel einen iranischen Botschafter einladen?). Die Verhaltenstugend der oft unterschätzten Toleranz ist alles andere als selbstverständlich und bisweilen sehr unbequem. In John Stuart Mills Schrift "On liberty" (1859) ergibt sich die Wahrheit am ehesten aus dem ständigen Meinungsstreit, wobei jede Meinung, egal wie exzentrisch sie zunächst daherkommt, wahr sein kann. Die Annäherung an die ganze Wahrheit, die aus vielen Einzelteilen besteht, muss buchstäblich erarbeitet werden. Dafür dient der offene und möglichst inklusive Meinungsstreit; er führt zudem dazu, dass Lehrende wie Lernende auf ihren Posten nicht einschlafen.

Es ist mithin von grundlegender Bedeutung für eine offene und liberale Gesellschaft, dass Meinungen (auch die abstrusesten) überhaupt artikuliert werden können (dann weiß man wenigstens, woran man ist), dass man sie kennenlernt (auch rechte Parteiprogramme) und sich mit ihnen, möglichst vor Publikum, auseinandersetzt. Nur so kann verhindert werden, dass sie sich in den Köpfen vieler festsetzen und verbreiten. Eine aufrichtige, sachliche und entschiedene Diskussion bewirkt allemal mehr als die Blockade von Vorträgen, die gerade an einer Universität, die Ort der geistigen Auseinandersetzung sein sollte, fehl am Platze ist. Dies schließt friedliche und originelle Proteste nicht aus. Ideologischer Druck, von welcher Seite auch immer, schreckt dagegen nicht nur ab, sondern ist aufs schärfste zu verurteilen, weil er eine vernünftige Diskussion verunmöglicht.

Professor Dr. Heinz Kleger, Potsdam

Text: F.A.Z., 07.07.2008, Nr. 156 / Seite 8

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