Montag, 10. Oktober 2011

Wohl zu viel Soziologie geraucht





Lenins Bolschewiki machen Revolution - Oktober 1917 in Moskau
("Da haben die Proleten Schluß gesagt" (youtube.com/watch?v=L4k30VF5eAE))



- Zu viel Reaktion, zu wenig Revolution, meinte SPD-Kanzlerkandidat Steinbrück neulich in der FAZ, diese Deutschen hätten nie eine Revolution zu Ende gebracht, daran leide Deutschland. (22.9.11)
Keine Revolution hat die Reaktion in Deutschland davongejagt. Nicht richtig. Sowas.
“Reaktion” steht für Konservatismus, die Reaktionäre sind die Konservativen. Und die Rechten noch dazu. Das Rechts-Links-Schema stammt aus der französischen Nationalversammlung der Revolutionszeit. Links saßen die revolutionären Jakobiner, rechts die revolutionären Girondisten.

Auch das ist eine stabile, um nicht zu sagen: konservative Eigenart des Menschen, daß er am liebsten ein Zweier-Schema verwendet: links/rechts, gut/böse, tauglich/untauglich, für mich/gegen mich, Reaktion/Revolution. Das entspricht der eingeschränkten menschlichen Denkfähigkeit und wird bleiben bis ans Ende der Tage.
Aber wenigstens eine Revolution sollte man zu Ende bringen, meint Steinbrück, sonst leide ein Land.
Wieder die binäre Figur: Länder mit Revolution, Länder ohne. Man könnte das als Geschwätz aus dem Adorno-Habermas-Leggewie-Seminar abtun, aber dieses Seminar beherrscht einen Großteil der Philosophischen Fakultäten und Medien, wo ihre Schüler an meinungsbildender Stelle sitzen.
Frankreich also hat seine Revolution exekutiert, und der Rousseau-Schüler Robbespierre hat mit der Guillotine so lange am volonte generale, am Einheitswillen gearbeitet, bis er selbst unter dem Fallbeil lag. Haben sich die Millionen toter Franzosen, zu denen noch die europäischen Opfer der Napoleonischen Kriege hinzuzuzählen sind, für Frankreich positiv ausgewirkt? Hohe Leichenberge, brutaler Zentralstaat, gieriger Kolonialismus, die weltweit schlimmste Bürokratie mit dem Wasserkopf Paris - sind das Steinbrücks Revolutionsvorteile?
Auch die Russen mußten eine exekutierte Revolution erleben, die die Konservativen und Reaktionäre, aber dann auch, wie in der Französischen Revolution, viele Revolutionäre hinwegfegte. Die Leichenberge wurden noch höher und der Terror noch grauenhafter. Maos Revolution steigerte die Leichenberge noch einmal - vermißt
Steinbrück das allen Ernstes? Er hat wohl, Jahrgang 1947, zu viel Adorno-Habermas-Soziologie in Kiel studiert.
Zudem hatten wir in Deutschland zwei konservative Revolutionen. Luther wollte den alten katholischen Geist konservieren, es wurde eine Reformation daraus, die die religiösen und landesherrlichen Verhältnisse revolutionierte - man kann lange darüber streiten, wie der Saldo dieser Konfessionalisierung zu verbuchen ist, wahrscheinlich liegt er im positiven Bereich, aber doch erst nach dem 30jährigen Krieg, der die deutschen Länder in Schutt und Asche legte und den die Mehrheit der Deutschen (zwei Drittel) nicht überlebte.
Man kann verstehen, warum Goethe revolutionäre Umtriebe haßte.
Auch Hitlers reaktionäre Revolution fand in Deutschland statt, sprengte die Länderordnung, schuf den zentralen Terrorstaat nach Stalins Vorbild und folgte Napoleons Kriegsspuren - diese revolutionären Folgen und Abscheulichkeiten sollten reichen, um Goethes Haltung heute mit noch mehr Berechtigung einzunehmen. Die Beseitigung der revolutionären Ulbricht-Honecker-Diktatur folgte einem anderen Muster: die SED-Macht zerfiel, sie war sich selbst unglaubwürdig geworden, eine vielfältige Opposition wuchs, hatte aber keine starken Figuren, die Macht an sich reißen konnten, die meisten Oppositionellen wollten nur Reisefreiheit und Wohlstand nach Maßgabe Westdeutschlands, so daß die westdeutsche Ordnung in das östliche Vakuum gleichsam hinübergesogen wurde. Weil die SED völlig gelähmt war durch ihren fast völligen Vertrauensverlust, konnte diese tiefgreifende Umwälzung ohne Gewalt vonstatten gehen, aber auch, weil es keine entschlossen-revolutionären, gewaltbereiten Gruppen gab, wie es die Jakobiner, Bolschewiki und Maoisten waren. Die ostdeutsche Umwälzung war höchstens eine Verlegenheits-Revolution, ein Glück des Kairos, die Gunst des passenden Augenblicks und der günstigen Umstände. Ein taugliches Modell stand bereit und konnte einfach übernommen werden.
Viele Genossen hatten sich etwas anderes erwartet, Lafontaine und Günter Grass waren enttäuscht - Steinbrück auch?
Glücklich das Land, das nicht zu viel in “Reaktion” und “Revolution” denkt, in primitiven Polit-Etiketten wie “konservativ” und “progressiv”. Ihr angestammter Platz ist auf dem Markt, wo simple Zweierfiguren und lautes Schreien wirken.

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