Der Außenminister Nikolaus' II, Sergej Sasonow
(Bild: Wiki.)
Den Befehl zur Generalmobilmachung vom 29.7.14 nahm der Zar Stunden später zurück, um ihn sich von Außenminister Sergej Sasonow erneut abringen zu lassen.
“Die russische Generalmobilmachung zählte zu den schwerwiegendsten Entscheidungen während der Julikrise. Es war bislang die einzige Generalmobilmachung. Sie kam zu einem Zeitpunkt, als die deutsche Regierung noch nicht einmal den Status der drohenden Kriegsgefahr ausgerufen hatte, das deutsche Pendant zur russischen Kriegsvorbereitungsperiode, die seit dem 26.7. in Kraft war. … In dem Orangebuch, das die russische Regierung nach Kriegsausbruch veröffentlichte, um die eigenen Aktionen während der Krise zu rechtfertigen, datierten die Herausgeber den österreichischen Befehl zur Generalmobilmachung drei Tage zurück, so daß der russische Schritt als reine Reaktion auf andere Entwicklungen erschien.”
(Clark, Schlafwandler, S. 651)
Der Zar war zwar russischer Nationalist und Imperialist, aber doch auch ein Vetter Wilhelms II., mit dem er eine Telegramm-Korrespondenz per “Nicky” und Willy” führte.
Zar Nikolaus hatte zwar den Militärgegner Kokowzow aufgrund einer Intrige im Januar 1914 entlassen, aber das Finanzministerium zunächst Pjotr Durnowo angeboten, der jedoch ablehnte. Durnowo war ein Gegner eines Balkan-Engagements und hätte mutmaßlich Sasonows und Agrarminister Alexander Kriwoscheins Spiel durchkreuzen können.
So wurde ein völlig unbedeutender Balkankonflikt, einer von tausenden im Laufe der Jahrhunderte, zu einem europäischen Krieg.
Den aber wollten eigentlich nur die französischen Nationalisten, die bis heute am Napoleon-Syndrom leiden. Und ohne das andauernde Anstacheln aus Paris hätte Rußland den Konflikt lokal gehalten, beschränkt auf Serbien, Bosnien und die anderen Balkan-Zwergfürstentümer. Es sollte nicht sein, denn die Imperialisten, allen voran Großbritannien und Frankreich, sahen immer irgendwo eine Bedrohung ihrer Einflußsphären. Vor allem Rußland bedrohte die britischen Herrschaftsgrenzen in Persien und Afghanistan. Der Imperialist Grey sah die britischen Truppen nicht nur in Indien gegenüber der ausgedehnten Landmacht Rußland in der Defensive. Daher das Interesse, mit Petersburg eine Annäherung in der Triple Entente (F, R, GB) zu suchen. Die heimischen Grey-Gegner John Morley und John Simon u.a. verlangten kategorisch ein Interventionsverbot. Der sehr kriegerisch gestimmte 1. Seelord Churchill schrieb später, “mindestens drei Viertel der Kabinettsmitglieder … seien entschlossen gewesen, sich nicht in ‘einen europäischen Streit’ hineinziehen zu lassen”. (Clark, S. 693).
Und ohne Großbritannien wäre der WKI ausgefallen. Doch die Winkelzüge Greys und Churchills und auch die Möglichkeit des Machtverlustes der Regierung im Zusammenhang mit der Irlandfrage bestärkten Paris und Petersburg in ihrer Kriegspolitik.
Trotzdem war der große Krieg prinzipiell unwahrscheinlich, wenn nicht die antideutsche Seilschaft Arthur Nicolson, Charles Hardinge und Francis “The Bull” Bertie jahrelange Vorarbeit geleistet hätten, Bertie als Botschafter in Paris. Und wenn es nicht eine archaische Grundlage gegeben hätte:
“Als Bertie von der Gefahr sprach, daß die Deutschen ‘uns ins Wasser schubsen und die Sachen wegnehmen’ könnten, wählte er für das internationale System das Bild einer dörflichen Spielwiese, auf der sich männliche Halbwüchsige austobten.” (Clark, S. 465).
So ein geistig Halbwüchsiger war auch der Großonkel Christopher Clarks, der sich 1916 als Viehzüchter im fernen Australien zum freiwilligen Kriegsdienst in Frankreich meldete. Immerhin wußte Onkel Jim, wer der Feind war. Die kampfbereiten Kosaken im Altai wußten es nicht.
“Aber wer war der Feind? Das wußte keiner. Das Telegramm zur Mobilmachung machte dazu keine Angaben. … Anfangs stellten sich alle vor, daß es gegen China in den Krieg gehen mußte: ‘Rußland war in der Mongolei zu weit gegangen, und China hatte den Krieg erklärt.’” (Clark, S. 708)
Aber richtige Männer sind auch ohne Feind kampfbereit. Und die arrivierten Gentlemen in ihrem adlig-kriegerischen Geist mit der Kampfmatrix im Kopf sorgen stets dafür, daß der Krieger noch rechtzeitig erfährt, wer der Feind ist.