Freitag, 19. August 2016

An sich arbeiten












Unter Deutschen versteht man sofort, wenn ich sage, daß die Philosophie durch Theologen-Blut verderbt ist. Der protestantische Pfarrer ist Großvater der deutschen Philosophie, der Protestantismus selbst ihr peccatum originale (Erbsünde). Definition des Protestantismus: die halbseitige Lähmung des Christenthums – und der Vernunft ... Man hat nur das Wort »Tübinger Stift« auszusprechen, um zu begreifen, was die deutsche Philosophie im Grunde ist, – eine hinterlistige Theologie ... Die Schwaben sind die besten Lügner in Deutschland, sie lügen unschuldig ... Woher das Frohlocken, das beim Auftreten Kant's durch die deutsche Gelehrtenwelt gieng, die zu drei Vierteln aus Pfarrer- und Lehrer-Söhnen besteht, – woher die deutsche Überzeugung, die auch heute noch ihr Echo findet, daß mit Kant eine Wendung zum Besseren beginne? Der Theologen-Instinkt im deutschen Gelehrten errieth, was nunmehr wieder möglich war ... Ein Schleichweg zum alten Ideal stand offen, der Begriff » wahre Welt«, der Begriff der Moral als Essenz der Welt (– diese zwei bösartigsten Irrthümer, die es giebt!) waren jetzt wieder, Dank einer verschmitzt-klugen Skepsis, wenn nicht beweisbar, so doch nicht mehr widerlegbar ... Die Vernunft, das Recht der Vernunft reicht nicht so weit ... Man hatte aus der Realität eine »Scheinbarkeit« gemacht; man hatte eine vollkommen erlogne Welt, die des Seienden, zur Realität gemacht ... Der Erfolg Kant's ist bloß ein Theologen-Erfolg: Kant war, gleich Luther, gleich Leibniz, ein Hemmschuh mehr in der an sich nicht taktfesten deutschen Rechtschaffenheit – –”    
Nietzsche, Der Antichrist, Abschnitt 10

Anmerkung: Dem »Tübinger Stift« entsprangen u.a. Hölderlin, Schelling und Hegel; Kants Eltern waren Pietisten.
Das »Tübinger Stift« war eine Schmiede der Gelehrsamkeit, der “Bildung”, wie es heute heißt. Fand dort tatsächlich “Bildung” statt? Mitnichten. Man lese des Pfarrersohns Hesses Schulerzählung “Unterm Rad”, um eine Vorstellung davon zu bekommen, daß in der christlichen Schule zwar viele Inhalte aufgedrängt wurden, aber “Bildung” nicht stattfand. Denn das Hauptmerkmal von “Bildung” ist, daß sich der junge Mensch bildet. Durch Selbstreflexivität. Indem er herausfindet, wie er geartet ist, und indem er seine Persönlichkeit formt und bildet. Indem er Dogmen zurückweist und zu empirischem, ergebnisoffenem Denken findet. Diese schwere Aufgabe, die ohnehin die wenigsten bewältigen können, wird in christlichen Schulen verhindert durch Vermittlung eines dogmatischen Denkstils, durch hinterlistige Indoktrination. Pfui.









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