Sonntag, 12. April 2020

Johann Wolfgang von Goethe: Osterspaziergang

1 Kommentar:

Doleys hat gesagt…

Goethe, FAUST I, Vor dem Tor, Osterspaziergang .

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick;
Im Tale grünet Hoffnungsglück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in rauhe Berge zurück. ...
Denn sie sind selber auferstanden,
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
Aus Handwerks- und Gewerbesbanden,
Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
Aus der Straßen quetschender Enge,
Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht[35]
Sind sie alle ans Licht gebracht.
Sieh nur, sieh! wie behend sich die Menge
Durch die Gärten und Felder zerschlägt,
Wie der Fluß, in Breit' und Länge,
So manchen lustigen Nachen bewegt,
Und bis zum Sinken überladen
Entfernt sich dieser letzte Kahn.
Selbst von des Berges fernen Pfaden
Blinken uns farbige Kleider an.
Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
Hier ist des Volkes wahrer Himmel,
Zufrieden jauchzet groß und klein;
Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein.

Man muß sich vorstellen, wie die Menschen zu dieser Zeit unter dem Winter litten. Geheizt wurde meist nur in der Wohnküche, mit Holz und einem einfachen Ofen. Zudem herrschte die Kleine Eiszeit. Der Abort war eiskalt im Hinterhof. Die Stadtluft war geschwängert mit Rauch und Ruß und sonstigem Gestank. Diskret erwähnt ihn Goethe nicht. Der Frühling und die Wärme der wieder gestiegenen Sonne weckten dann große Gefühle der Befreiung und lockten zum Frühlingsfest außerhalb der grauen, engen, dunklen Gassen. 
Auch Faust und Wagner zieht es hinaus ins Feld. Doch verdüstert sich Fausts Stimmung, als er sich der vergangenen Epidemie entsinnt:  

Nur wenig Schritte noch hinauf zu jenem Stein,
Hier wollen wir von unsrer Wandrung rasten.
Hier saß ich oft gedankenvoll allein
Und quälte mich mit Beten und mit Fasten.
An Hoffnung reich, im Glauben fest,
Mit Tränen, Seufzen, Händeringen
Dacht' ich das Ende jener Pest
Vom Herrn des Himmels zu erzwingen.
Der Menge Beifall tönt mir nun wie Hohn.
O könntest du in meinem Innern lesen,
Wie wenig Vater und Sohn
Solch eines Ruhmes wert gewesen!
Mein Vater war ein dunkler Ehrenmann,
Der über die Natur und ihre heil'gen Kreise
In Redlichkeit, jedoch auf seine Weise,
Mit grillenhafter Mühe sann;
Der, in Gesellschaft von Adepten,
Sich in die schwarze Küche schloß
Und, nach unendlichen Rezepten,
Das Widrige zusammengoß.
Da ward ein roter Leu, ein kühner Freier,
Im lauen Bad der Lilie vermählt,
Und beide dann mit offnem Flammenfeuer
Aus einem Brautgemach ins andere gequält.
Erschien darauf mit bunten Farben
Die junge Königin im Glas,
Hier war die Arzenei, die Patienten starben,
Und niemand fragte: wer genas?
So haben wir mit höllischen Latwergen
In diesen Tälern, diesen Bergen
Weit schlimmer als die Pest getobt.
Ich habe selbst den Gift an Tausende gegeben,
Sie welkten hin, ich muß erleben,
Daß man die frechen Mörder lobt.

Die Medizin steckte seinerzeit noch in den Kinderschuhen, aber das verbarg sie geschickt durch Latein und autoritatives Gehabe. Wie heute, könnte man fast sagen. Allerdings hat die Medizin heute naturwissenschaftlichen Boden unter den Füßen und verfügt über einen reichen Erfahrungsschatz. Aber Panikgesinnung, voreilige Schlüsse und Modellbastelei statt solider Feldarbeit sind heute das Problem; Panikpudel verbellen die rationale Analyse und sperren die Bevölkerung ein in graue Angst und enge Wohnungen. Damit muß jetzt Schluß sein. Wir fragen: wer genas? Es sind inzwischen viele, selbst in der Risikogruppe der Älteren: Der erste Patient von Webasto, Kerner, Charles Windsor, Friedrich Merz. Jeder Tote ist zu beklagen, aber es wird das ganze Jahr hindurch gestorben, täglich etwa 2500. Im Frühling kommen die jungen Motorradfahrer dazu. Schlimm. Aber das soll uns nicht den Frühling vermiesen. Es scheint die Sonne, da fühlt man Wonne. Wie im Weimar der Kleinen Eiszeit.