Die Bürde des Weißen Mannes
Ergreift die Bürde des Weißen Mannes –
schickt die Besten aus, die ihr erzieht –
Bannt eure Söhne ins Exil den Bedürfnissen euerer Gefangenen zu dienen;
in schwerem Geschirre aufzuwarten verschreckten wilden Leuten –
euren neugefangenen verdrossenen Völkern,
halb Teufel und halb Kind.
Ergreift die Bürde des Weißen Mannes –
geduldig auszuharren um Schreckensdrohung zu verhüllen und anmaßenden Stolz zu zügeln;
durch offenes und schlichtes Reden, hundertmal klar dargelegt,
eines anderen Vorteil zu suchen und eines anderen Gewinn zu bewirken.
Ergreift die Bürde des Weißen Mannes – die wüsten Kriege des Friedens – füllt den Mund des Hungers und gebietet der Krankheit Einhalt; und wenn euer Ziel ganz nah ist, das Ziel, das ihr für andere erstrebt habt, seht zu, wie Trägheit und heidnischer Wahn all eure Hoffnung zunichte machen.
Ergreift die Bürde des Weißen Mannes – kein Flitterkönigs-Herrschen, sondern die Plackerei von Knecht und Putzer – die Summe der gewöhnlichen Dinge.
Die Häfen, in die ihr nicht einlaufen dürft,
die Straßen, die ihr nicht betreten werdet,
geht, macht sie mit euren Lebenden
und markiert sie mit euren Toten!
Ergreift die Bürde des Weißen Mannes – und erntet seinen alten Lohn: den Tadel derer, die ihr bessert, den Haß derer, die ihr hütet –
den Schrei der vielen, die ihr lockt (ah, so langsam!) hin zum Licht:
»warum habt ihr uns aus der Knechtschaft befreit, unserer geliebten ägyptischen Finsternis?
Ergreift die Bürde des Weißen Mannes –
wagt nicht, euch nach Geringerem zu bücken –
und beruft euch nicht zu lauf auf Freiheit, um euere Müdigkeit zu bemänteln; an allem, was ihr ruft oder flüstert, an allem, was ihr laßt oder tut werden die schweigsamen verdrossenen Völker euere Götter und euch messen. Ergreift die Bürde des Weißen Mannes – macht Schluß mit den Tagen der Kindheit – dem leicht dargebotenen Lorbeer, dem mühelosen unangefochtenen Lob.
Nun kommt - eure Mannhaftigkeit zu suchen durch all die Jahre ohne Dank -,
kalt-geschliffen von teuer erkaufter Weisheit
das Urteil von Ebenbürtigen!
Erstveröffentlichung: 4.2.1899 London Times, 5.2. N.Y. Tribune & Sun
http://www.loske.org/html/school/history/c19/burden_full.pdf
Rudyard Kipling: *1865 Bombay, 1871 Schulbildung in England, 1882-89 als Journalist in Indien, 1891-6 in den USA, wo er die beiden Dschungelbücher schreibt, ab 1898 wiederholte Reisen in den Süden Afrikas, wo er u.a. mit C. Rhodes zusammentrifft, 1907 als erster engl. Schriftsteller den Nobelpreis, in späteren Jahren zunehmend kritischer gegenüber expansiven, imperialistischen Bestrebungen,U1936
Gov. (N.Y.) T. Roosevelt to Congressman H. Cabot Lodge, Jan. 12, 1899: "I send you an advance copy of a poem by Kipling which is rather poor poetry, but good sense from the expansionist standpoint." H. Cabot Lodge to T. Roosevelt, Jan. 14, 1899 "Thanks for the advance copy of Kipling's poem. I like it. I think it is better poetry than you say, apart from the sense of the verses.”
Spricht hier ein Christ? Oder ein Imperialist? Wohl beides. Der europäische Expansionismus war seit Columbus ein Kolonialismus, der dann Imperialismus wurde im Geist der Verbesserung der Welt. Von Cecil Rhodes bis Albert Schweitzer und den Eltern Hermann Hesses ist zudem ein protestantisches Element im Imperialismus unübersehbar.
Das war natürlich zu kurz gedacht und idealistisch aufgeblasen.