Dienstag, 5. April 2022

Respekt


Wenn man Hannah Arendts VITA ACTIVA zur Hand nimmt, dann begibt man sich in eine Denkwelt der Vergangenheit. “Weltlosigkeit”, “Verlassenheit des Massenmenschen” und dergleichen atmen eine vergangene Diskussion, wenn auch der alte Adam sich in manchem gleichgeblieben ist. “Respekt” kommt auch vor: “So ist ja offenbar der moderne Respektverlust, bzw. die Überzeugung, daß wir Respekt nur schulden, wo wir bewundern oder schätzen, ein deutliches Zeichen für die fortschreitende Entpersonalisierung des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens.”*

Das dürfte ein Irrtum sein. Der Rückgang des Respekts hängt als verbreitetem Phänomen mit der zunehmendem Gleichheit zusammen und dem Niedergang des Adels, mit dem Übergang von verbindlicher Schichtung der Gesellschaft zu einer Gesellschaft der Chancengleichheit und Funktionssysteme. Der Rapper ohne Ausbildung kann mit seinen Millionen Unternehmer werden und seine Frau Berühmtheitskönigin mit eigenem Millioneneinkommen. Und schon zuvor wurden Monarchen gestürzt und die Rockefellers und Carnegies besetzten die freigewordenen Plätze. Heute sind viele so respektlos wie seinerzeit nur wenige, so respektlos etwa wie ein Luther, der den Papst “eine Sau” nannte.

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Hannah Arendts, VITA ACTIVA, 1957, Piper S. 238

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