Welche Faktoren prägen Persönlichkeit und Intelligenz? Steven Pinker, FAZ, 14.01.2002 (edge.org)
Nach der Geburt getrennte eineiige Zwillinge zeigen als Erwachsene eine überraschende Ähnlichkeit in Denken und Persönlichkeit (auch wenn von Identität keine Rede sein kann); gemeinsam aufgewachsene eineiige Zwillinge gleichen einander stärker als gemeinsam aufgezogene zweieiige Zwillinge. Viele Menschen reagieren auf solche Ergebnisse mit der Feststellung: „Sie wollen also behaupten, daß alles in den Genen angelegt ist.“ Aber die Forschung zeigt, daß die Gene nur für etwa die Hälfte der Variation verantwortlich sind; etwa die Hälfte muß also auf etwas zurückzuführen sein, das nicht genetischer Natur ist. Die nächste Reaktion lautet dann: „Das heißt also, die andere Hälfte muß aus der Erzieung stammen.“ Doch auch das ist falsch. Bei der Geburt getrennte eineiige Zwillinge sind einander nicht nur ähnlich; sie sind einander „nicht weniger“ ähnlich, als wenn sie gemeinsam aufwachsen. Dasselbe gilt für Geschwister, die keine Zwillinge sind: Gemeinsam aufgewachsen, sind sie einander nicht ähnlicher, als wenn sie getrennt aufwachsen. Gemeinsam aufgewachsene eineiige Zwilling gleichen einander nur zu fünfzig Prozent, und Adoptivgeschwister sind einander nicht ähnlicher als zwei rein zufällig ausgewählte Menschen. Kinder werden einander also nicht deshalb ähnlich, weil sie im selben Haushalt aufwachsen.
Die Variation in Persönlichkeit und Intelligenz läßt sich also prozentual etwa so zerlegen: Gene fünfzig, Familie null und irgend etwas anderes wieder fünfzig. Vielleicht ist es der Zufall. Im Mutterleib wendet sich der Wachstumskegel eines Axons nicht hierher sondern dorthin; das Gehirn erhält so eine etwas andere Konfiguration. Man kann sich eine Entwicklung vorstellen, bei der sich Millionen kleiner zufälliger Ereignisse gegenseitig aufheben, so daß am Ende dasselbe Ergebnis herauskommt; man kann sich aber auch einen Prozeß vorstellen, bei dem ein zufälliges Ereignis die Entwicklung völlig aus der Bahn wirft, so daß ein Monster entsteht. Doch keins von beidem geschieht. Die Entwicklung der Organismen basiert offenbar auf komplizierten Rückkopplungsschleifen. Zufällige Ereignisse können das Wachstum aus der Bahn bringen, doch die Bahnen bewegen sich im Rahmen funktionierender Entwürfe für die betreffende Spezies, die durch die natürliche Selektion festgelegt wurden.
Was wir mit „Umwelt“ meinen – der Anteil der nicht durch die Gene bedingten Varianz – hat möglicherweise gar nichts mit der Umwelt zu tun. Wenn die nichtgenetische Varianz das Ergebnis zufälliger Ereignisse bei der Entwicklung des Gehirns sein sollte, wäre damit ein weiterer Teil unserer Persönlichkeit und unserer Intelligenz biologisch (wenn auch nicht genetisch) bedingt und damit selbst den besten Absichten der Eltern und der Gesellschaft entzogen.
Steven Pinker ist Professor für Psychologie am Department of Brain and Cognitive Sciences des Massachusetts Institute of Technololgy (MIT) in Cambridge und Autor von „Wörter und Regeln“.
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