Sonntag, 15. Juni 2008

Kriminalstatistik

Kritik eines Ökonomen
25 Milliarden Euro Schaden durch Gewaltquellen

Nach der Vorlage der neuen Polizeilichen Kriminalstatistik hat der Ökonom und Kriminalist Horst Entorf scharfe Kritik an einer zu schwachen Strafverfolgung geübt. "Die rechtspolitische Strategie, möglichst wenig Täter zu Haftstrafen zu verurteilen, ist gescheitert, wie die steigende Zahl von Gewalttaten, besonders von schwerer und gefährlicher Körperverletzung zeigt", sagte Entorf dieser Zeitung. Bei einem sehr hohen Anteil der von der Polizei aufgeklärten Fälle werde das Verfahren von Staatsanwälten mit oder ohne Auflagen eingestellt. Die Quote der Anklagen bei schweren Körperverletzungen sei auf gut 30 Prozent gefallen. Nur in 15 Prozent der Verurteilungen gebe es eine Haftstrafe ohne Bewährung. Das Abschreckungspotential der Strafjustiz verkomme, meint Entorf, der an der Frankfurter Goethe-Universität einen Lehrstuhl für Ökonometrie innehat und zu Fragen der Kriminalität forscht.

Der Ökonom kritisiert, dass die Statistik wegen der von 1994 bis 2006 um rund eine Million gesunkenen Gesamtzahl der Straftaten einen geringeren Schaden für die Bevölkerung suggeriert. Entorf sieht dagegen eine deutlich steigende Tendenz. Die verursachten Schäden sind nach seiner Aussage nur unzureichend erfasst, da lediglich das verlorene Eigentum berechnet werde. In einer Studie hat Entorf versucht, nach dem Muster des britischen Home Office zur Berechnung der Kosten der Kriminalität auch die physischen und emotionalen Schäden von Opfern zu messen sowie weitere volkswirtschaftliche Schäden wie Versicherungsleistungen und die nachgelagerten Kosten des Justizsystems mit einzubeziehen.

Zieht man diese Kosten für die Beurteilung der deutschen Gewaltkriminalität heran, kommt Entorf auf einen Anstieg der Schadenssumme von 22,9 Milliarden Euro im Jahr 1994 auf 24,7 Milliarden Euro im Jahr 2006 - eine Steigerung von fast 8 Prozent. In seiner Studie "Wirkung und Effizienz von Strafrecht" hat Entorf zudem die unterschiedliche Strafverfolgungspraxis und einen möglichen Zusammenhang mit Gewaltkriminalität untersucht. Seit der großen Strafrechtsreform von 1969 ist man bestrebt, Haftstrafen zu vermeiden. Nur noch 8 Prozent aller Urteile lauten heute auf Haft ohne Bewährung. In Bayern drohen einem überführten Räuber durchschnittlich 4,9 Monate Haft. Dagegen sind es in Schleswig-Holstein nur 2,4 Monate. Nur noch 11 Prozent der Heranwachsenden, die eine schwere Körperverletzung begingen, wurden zuletzt nach dem Erwachsenenstrafrecht abgeurteilt, vor dreißig Jahren waren es noch knapp 30 Prozent. Die richterliche Milde ist nach Ansicht Entorfs ein Grund für den starken Anstieg der Gewalttaten. (ppl.)


Text: F.A.Z., 05.06.2008, Nr. 129 / Seite 8

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