Mittwoch, 13. September 2017

Zum Sterbetag Montaignes am 13.9.1592. Er wurde 59 Jahre alt.

 

MONTAIGNE - Das Leben von seiner guten Seite sehen

Montaigne wird recht stiefmütterlich behandelt, ich selbst
bin erst spät auf ihn gestoßen. An der Universität dominieren die
philosphischen Systembaumeister, die die Philosophie als oft
unverständliche Schwatzwissenschaft in Verruf gebracht haben. Man
denke nur an den Großdenker Hegel und seinen Schüler Marx.
Montaigne? fragte mich ein Kollege, der denke doch sehr
minimalistisch. Das trifft zu, er hat sich kein schlaumeierisches und
dogmatisches Welterklärungssystem ausgedacht, kein Manifest für die
endgültige Erlösung der Welt geschrieben, sondern praktische
Philosophie betrieben, auch als Bürgermeister von Bordeaux, der er
1581-85 war. Ich nehme an, daß diese Rotweinjahrgänge besonders gut
ausfielen.
"Große Philosophie hat einen durchschlagenden Klang, ein
Durchtönendes, das sich in einer kurzen Formel ausdrücken läßt."
Dieses Wort Ernst Blochs paßt nicht auf Montaigne, es fällt auf den
philosophischen Agitator Bloch und seine schlagende Philosophie selbst
zurück. Montaigne klingt vielfältig in vielen Harmonien und läßt viele
Sa(e)iten klingen, nicht zu laut, nicht aufdringlich und
durchschlagend, und vielleicht dominieren die unaufgelösten Akkorde.
Montaigne denkt vom Menschen aus, von dessen vielen Seiten, und
eigentlich denkt er von sich selbst aus, er vergleicht sich selbst mit
seinen Mitmenschen und entdeckt immer neue Seiten in sich selbst und
den anderen und wundert sich.
Was er denkt, könnte man als 'Persönlichkeitsphilosophie' bezeichnen,
und man könnte das Adjektiv 'liberal' davorsetzen. Montaigne denkt
pluralistisch, lange bevor Goethe das Drama der zwei Seelen in einer
Brust, den FAUST, schreibt. Seine eigenen Maximen hält er nicht für
"der Weisheit letzten Schluß" und einen kategorischen Imperativ läßt
er nicht gelten:
"Ich erlasse, soviel man verlangt, einem anderen Wesen meine eigenen
Lebensregeln und Grundsätze und betrachte es nur in sich selbst ohne
Beziehung auf anderes ... Daß ich nicht enthaltsam bin, hindert mich
nicht, die Enthaltsamkeit der Barfüßler und Kapuziner aufrichtig
anzuerkennen und die Art ihres Wandels hochzuschätzen ... Und doch
liebe und ehre ich sie um so mehr, als sie anders sind als ich. Ich
wünschte inständig, daß man jeden von uns für sich gesondert richte
und mich nicht über den gemeinen Leisten schlage." (Essays, Über Cato d.
Jüngeren, 247)
Wer so schreibt, sieht in sich und in den anderen mehr als eine
Möglichkeit zu leben und zu handeln. Viele Maximen und Handlungsmuster
stehen bereit, viele Gemeinschaften, Organisationen, Parteien und
Gurus wollen dem Individuum einflüstern. Wunderbare Moralen und
Ethiken warten an jeder Ecke, um sich wie eine Zecke auf den arglosen
Flaneur fallen zu lassen. Ein Königsberger Kopf, nach dem in jeder
besseren Stadt eine Straße benannt ist, machte folgenden gloriosen
Vorschlag:
Bestimme die Maxime deines Willens danach, daß sie jederzeit zur
Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung dienen kann.
Da hätte Montaigne lächelnd den Kopf geschüttelt und gefragt:
"Hast du dein Leben zu bedenken und zu führen gewußt? So hast du das
größte aller Werke vollbracht ... Unser großes und herrliches
Meisterwerk ist: richtig leben ... nichts ist so schön und ehrenhaft,
als wahrhaft und wie es sich gehört, ein Mensch zu sein und keine Kunst
so schwer wie die, dieses Leben recht und natürlich zu leben; und die
schrecklichste unserer Krankheiten ist die Verachtung unseres eigenen
Wesens."
Daraus ergibt sich, daß das Individuum sein Leben auch verfehlen kann.
Es bedarf sogar eines Meisters, um es nicht zu verfehlen. Das
Verfehlen liegt näher als die Bemeisterung, scheint Montaigne zu
denken. Alles erscheint einfacher, als "recht und natürlich" zu leben.
Das nämlich sei das "größte aller Werke".
Recht und Natur sind hier die Gegenspieler. Eine Variante dieser
Dialektik benennt Lichtenberg rund zweihundert Jahre später, wenn er
im Sudelheft B notiert:
"Der Pöbel ruiniert sich durch das Fleisch, das wider den Geist, und
der Gelehrte durch den Geist, dem zu sehr wider den Leib gelüstet." (B
21)
Allerdings hat schon Horaz, den Montaigne wie auch die anderen antiken
Autoren gut kannte, dieses Problem der widersprüchlichen Verfassung
des Menschen erkannt; im 4. Buch der Oden heißt es:
"Mische kleine Albernheiten in dein kluges Planen;
eine Lust ist es, albern zu sein am rechten Ort."
Aber wie bemißt sich das kluge Planen, wie sieht die verträgliche
Mischung aus und was ist der rechte Ort?
Das zu bestimmen, sind viele Unbekannte ohne Gleichung, oder eben das
"größte aller Werke".
Stets bleibt das sichere Erkennen ein Problem. In dem Essay "Über die
Unsicherheit unserer Urteile" geht Montaigne eine ganze Reihe antiker
Schlachten durch, um zu dem Schluß zu kommen:
"Recht verstanden hängen offensichtlich schon unsere Planungen und
Beschlußfassungen von den Launen des Schicksals ab, das somit selbst
unser Sinnen und Trachten in seine Unberechenbarkeit und Wirrnis
einbezieht. 'Wir urteilen unbedacht und aufs Geratewohl', sagt Timaios
bei Platon, 'weil wie in uns selbst so auch in unserem Denken der
Zufall eine große Rolle spielt.'" (S. 145 E)
Wen nimmt da wunder, daß Montaigne 1576, ein paar Jahre nach dem
Blutbad der Bartholomäusnacht, eine Medaille prägen läßt, deren eine
Seite seinen Wahlspruch: 'Was weiß ich?' zusammen mit einer Waage
zeigt, während die Rückseite ein Zitat des Pyrrhon von Elis zeigt:
'Ich enthalte mich des Urteils.'

Ganz interessant mag es sein, in dieser Perspektive nebenbei einen
Blick auf Spätere zu werfen. Etwa auf Bismarck, der am Ende eines
ungewöhnlich erfolgreichen Politiker-Lebens davon spricht, daß durch
die Geschichte der Mantel Gottes wehe, von dem nur einen Zipfel zu
erhaschen großes Glück sei.
Max Weber, der bedeutende Soziologe, faßt es sehr prägnant in seinem
Vortrag 'Politik als Beruf': "Es ist durchaus wahr und eine ...
Grundtatsache aller Geschichte, daß das schließliche Resultat
politischen Handelns oft: nein, geradezu regelmäßig, in völlig
unadäquatem, oft in geradezu paradoxem Verhältnis zu seinem
ursprünglichen Sinn steht."
(Weber, S. 64f.)
Brecht formuliert es, bevor er sich vom Marxismus den Verstand
abkaufen läßt, recht einfach und einprägsam:
“Ja, mach nur einen Plan, und sei ein großes Licht;
und mach noch einen zweiten Plan,
gehn tun sie beide nicht.”

Das ist ein bißchen übertrieben, aber Max Webers Wort sei jedem Politiker ins Stammbuch geschrieben. Juncker hätte damit seine EU-Rede heute vor dem Europaparlament eröffnen können, aber der Mann ist unbelehrbar.


























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