Sonntag, 21. März 2021

Alte Klage


Der “griechische Philosoph klagte nicht ganz ohne Grund: es ist Schade, daß man alsdann sterben muß, wenn man eben angefangen hat einzusehen, wie man eigentlich hätte leben sollen.”*

Das ändere mal jemand. Manchmal gelingt es ja, selbst bei unklugen Eltern. Aber einfach ist es nicht. 

Und das gilt auch für Gesellschaften. Zuvor heißt es bei Kant:

“Denn wenn der glücklichste Kopf am Rande der größten Entdeckungen steht, die er von seiner Geschicklichkeit und Erfahrenheit hoffen darf, so tritt das Alter ein; er wird stumpf und muß es einer zweiten Generation (die wieder vom A B C anfängt und die ganze Strecke, die schon zurückgelegt war, nochmals durchwandern muß) überlassen, noch eine Spanne im Fortschritte der Cultur hinzuzuthun.”

Das tut die nächste Generation unter Umständen nicht. Kant lebte zur Zeit der industriellen Revolution, in der zahlreiche Erfindungen und Umwälzungen das Leben enorm erleichterten. So verbesserte Andrew Meikle (1719-1811) im calvinistischen Schottland wahrscheinlich einen früheren Dreschmaschinenentwurf Michael Menzies und wurde so der Begründer einer neuen Agrarmaschinen-sparte. 

Aber in reifen Industriegesellschaften können Medien und der Unterhaltungssektor soviel Verwirrung stiften, daß große Entdeckungen und großartige Erfindungen der Altvorderen auf den Müll geworfen werden. So geschehen mit der fortgeschrittensten und sichersten Energieerzeugungstechnik in Deutschland.  

 

*Kant, Immanuel. Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte. Musaicum Books. Kindle-Version.


Samstag, 20. März 2021

Ach, so


Das Leben wird nach vorne gelebt und von hinten verstanden. So lautet ein beliebter Weisheitssatz. An dem gewisse Zweifel angebracht sind, was das spätere Verstehen betrifft. Was nachträgliche Konstruktionen sind, und was tatsächlich Einsicht in eine - oft lang - zurückliegende Handlungssituation darstellt, ist sehr schwer einzuschätzen. Vielleicht sogar unmöglich. Immerhin hat man manchmal das Gefühl, es ginge. Aber auf Gefühle ist kein Verlaß. Wolfgang Marx kann man insofern gut folgen:

Auf neuronaler Ebene nämlich entspricht einer Entscheidung die Vektorsumme aller Determinanten, die zum Zeitpunkt des Prozesses wirksam waren. Daraus folgt, dass unter gleichen Bedingungen immer das Gleiche geschieht. Es gibt daher keine Plausibilität für den Glauben, man hätte sich in einer gegebenen Situation auch anders verhalten können, als man es getan hat.

Aber er scheint doch zu wenig zu differenzieren, was die verschiedenen Handlungstypen betrifft. Sind elementare Ebenen einbezogen - wie Sexualität - ist eine rational Kontrolle weniger gegeben als bei Entscheidungen zur Nachmittagsgestaltung. Immerhin, bei Kahneman trifft man auf Möglichkeiten, wie Entscheidungssituationen mit mehr kaltem Kalkül zu unterfüttern sind. Die in verschiedenen Kulturen mehr oder weniger beachtet werden.

Ins Reich der unhaltbaren Spekulation führen Marxens Folgerungen, die er auf wackelige Experimentalbefunde sattelt. Die Moral bzw. das moralische Verhalten speist sich aus Tradition, Regeln und persönlicher Veranlagung. Auch da gilt die Vektorsumme, und sie besitzt einen starken individuellen Einschlag. Ebenso das Bedürfnis nach einem chinesischen Ameisenleben.  

 


Haushaltsgemeinschaften oder Abstammungsverband? Das ist die Frage!

 “Die Grundform europäischer Familienverfassung ist nicht der Abstammungsverband, sondern die Hausgemeinschaft. Die Mitglieder dieser Hausgemeinschaft müssen untereinander nicht notwendig durch Abstammung oder Heirat verwandt sein. Das macht dieses System so flexibel und an veränderte Verhältnisse anpassungsfähig. Es waren vor allem Bedürfnisse der Arbeitsorganisation, die in der europäischen Geschichte zu spezialisierten Formen von Haus- und Haushaltsgemeinschaften geführt haben - in der Landwirtschaft, im gewerblich-industriellen Bereich. … Und auch über den Rahmen der Hausgemeinschaft hinaus haben die gelockerten Abstammungsbeziehungen es möglich gemacht, starke Sozialbeziehungen zu nicht verwandten Personen aufzubauen.” (Mitterauer, Warum Europa? S. 107)

Das ist ein Punkt, der sonst kaum angesprochen wird, aber bis heute eine große Rolle spielt. Kann man die römischen Mit-Kaiser hier einordnen? Nur teilweise, soweit sie nicht Söhne waren wie bei Marc Aurel, mit dem Beinamen “Philosoph auf dem Kaiserthron”. Marc Aurel erkannte die Nichtsnutzigkeit seines Sohnes Commodus, machte ihn aber trotzdem zum Mit-Kaiser und Nachfolger. Außerhalb des Abstammungsprinzips konnte er nicht denken. Später, im west- und im ostfränkischen Bereich - beide christianisiert, beide mit der gleichen Agrarverfassung und mit Lehnswesen - entwickelte sich die politische Herrschaft und die politische Landesgliederung sehr unterschiedlich. In Frankreich entstand eine zentralistische absolute Monarchie, in Deutschland ein tausendgliedriges dezentrales Wahlkönigtum. Einzelne Elemente wie das Lehnswesen und die damit verbundene Hausgemeinschaft haben ihre Wirkungsgrenzen. 


Mittwoch, 17. März 2021

Die alte Unübersichtlichkeit mit neuen Frisuren

 Ja, von Zeit zu Zeit wird der alte C.P. Snow präsentiert, der Physiker der 2 Kulturen und zuletzt Wissenschaftsberater von Labourpremier Harold Wilson, der England fast völlig ruinierte. Da könnte man süffisant anmerken: kein Wunder bei diesem Berater. 

Aber seine Fragestellung existiert natürlich weiterhin. Die Physiker und anderen Naturwissenschaftler sind Hilfskräfte der Ingenieure, die den Wohlstand der Dinge schaffen, die aber natürlich keinen Sinn mit den Dingen und Gütern mitliefern können. Den können nur die Geistes- und Sozialwissenschaftler beisteuern, die jedoch überwiegend Unsinn produzieren. Wir haben das erlebt mit Chauvinismus und Imperialismus, mit Marxismus und Psychoanalyse, wir erleben das gerade mit Dekonstruktion und Genderfeminismus, mit esoterischen Weltbeglückungs-, Weltrettungs und Identitätstheorien. Die Lage ist so verworren wie verfahren. Da hilft kein Luhmann und kein Stichweh.


Sonntag, 14. März 2021

Ehe so oder so?

Man erinnert sich an Odysseus und Penelope, Helena und Paris, Daphnis und Chloe - deswegen sieht Mitterauer immer auch zurecht die antiken Grundlagen für die europäische Entwicklung der gattenzentrierten Ehe. Die nordischen Verhältnisse beachtet er weniger, aber es ist durchaus bemerkenswert, was Tacitus in der GERMANIA schreibt:

“Die Morgengabe bringt nicht das Weib dem Manne, sondern dem Weibe der Mann. Bei der Ueberreichung finden sich Eltern und Verwandte ein und mustern die Geschenke. Geschenke – aber nicht weibliche Luxusdinge oder Schmucksachen für die Neuvermählte, sondern Rinder und ein gezäumtes Roß und ein Schild mit Schwert und Speer. Gegen diese Gaben wird die Frau dem Manne zutheil, dem sie selbst ihrerseits einige Waffen zubringt. Diese Dinge gelten als das festeste Band, als das heilige Geheimniß, als die Schirmgötter der Ehe. Das Weib soll nicht wähnen, daß sie außerhalb der männlichen Gedankenwelt, außerhalb der kriegerischen Ereignisse stehe. Darum wird sie schon auf der Schwelle des Ehestands belehrt, daß sie eintritt als Genossin von Mühsal und Gefahr, im Frieden und im Kriege mit dem Manne zu dulden und zu wagen. Also verkünden ihr die gejochten Rinder, das gezäumte Roß, die dargebrachten Wagen; so muß sie leben, so muß sie sterben; was sie heut empfängt, das soll sie unentweiht und in Ehren dereinst ihren Söhnen übergeben, von diesen sollen es ihre Schwiegertöchter entgegennehmen, ihre Enkel es erben.”

(Tacitus, Die Germania.)


Tacitus war jedoch selbst nicht in Germania, sondern schöpft aus Quellen wie Caesar und Titus Livius. 

Dennoch kann diese Darstellung mit erklären, warum zwar das orientalische Christentum mit Paulus und Thomas die asiatische Vorstellung von dem Weib als “verfehltem Mann” (Thomas von Aquin) transportiert, aber diese nicht umfänglich dem Norden überstülpen kann. Mit Tacitus lassen sich viele okzidentale Erscheinungen gut vereinbaren, seien es die Kaiserinnen wie Theophanu oder die Witwe Loretta von Salm, die den aggressiven Erzbischof von Trier gefangensetzt. (Fischer-Fabian, Die Deutschen im späten Mittelalter, S. 219ff.) Auch das merkwürdige Phänomen des Minnesangs sei erwähnt.  

Mitterauer betont die große Bedeutung der christlichen Konsensehe und die Parallelisierung der Verwandschaftsbedeutung beider Ehepartner, sieht aber auch, daß im Osten “trotz Christianisierung patrilineare Traditionen der vorchristlichen Zeit vielfach weiterhin wirksam” blieben.* Das dürfte auch für die Vergleichsräume China und islamische Länder gelten, sie “erweisen sich im historischen Rückblick  als stark abstammungsorientierte Kulturen - den jeweiligen Wurzeln nach wohl aus sehr unterschiedlichen Gründen. Der Effekt ist aber weitgehend derselbe. Patrilineare Strukturen bedeuten für die Ordnung der Familie starke Bindungen - insbesondere die Notwendigkeit, die männliche Linie fortzusetzen.”*   (Mitterauer, Warum Europa? S. 103)