Sonntag, 25. April 2021

Lehenswesen und Sozialgeschichte

 “Die christliche Konzeption einer über die Blutsverwandtschaft hinausgehenden Bruderbeziehung hatte ihre generelle Wurzel in der allgemeinen Gotteskindschaft der Christen, ihre spezielle im Brudermodell der Klostergemeinschaft. Das ursprünglich religiös begründete Bruderschaftswesen hat in der europäischen Sozialgeschichte enorme Bedeutung gewonnen. Zünfte, Vereine, genossenschaftliche Organisationsformen aller Art gehen auf dieses quasiverwandschaftliche Modell der Bruderschaft zurück. Auch durch Sozialformen dieser Art wurden Familien in ihren Funktionen entlastet - im Bereich der sozialen Sicherheit etwa schon im Mittelalter durch die sogenannten ‘Bruderladen’. Daß sich Europa zu einer ‘horizontalen Gesellschaft’ entwickelt hat, ist wesentlich auf den Einfluß solcher genossenschaftlicher Sozialformen zurückzuführen. Als eine für die europäische Gesellschaftsentwicklung besonders wichtige quasiverwandtschaftliche Beziehung auf der Basis der Abhängigkeit sei die Lehensbindung genannt. Ihre hausrechtliche Komponente steht außer Zweifel. Daß Zusammenhänge mit geistlicher Verwandtschaft durch Patenschaft bestehen, wird durch allfällige Strukturanalogien nahegelegt.”*

Mittauer schürzt hier mit einer gewissen Plausibilität die ganz großen Knoten. Die Interdependenz ist dabei zu beachten. Der Lehnsherr bleibt der Herr, aber die Bauern besitzen bei Tüchtigkeit die Aussicht auf eine freie Bauernstelle. Der untüchtige Bauer verbleibt in Abhängigkeit und Fürsorge der Herrenfamilie. 

Ich erinnere mich, wie engagiert die ‘rote Gräfin’ Dönhoff seinerzeit letzteres betonte und den Familiencharakter der ostpreußischen Gutsherrschaften hervorhob. Nach der Bauernbefreiung strebten viele in die Städte, wo sie aber dieser grundherrlichen Fürsorge verlustig gingen und zu eigenverantwortlicher Lebensführung oftmals nicht in der Lage waren. Der Sozialstaat kann nur unzureichend die persönliche Beziehung, Lenkung und Hilfe ersetzen. Gerade bei mental schwachen Menschen. Das spiegelt sich in der modernen Verwahrlosung in labilen Familien, in Scheidungsraten und serieller Polygamie, in Drogenmilieus.  


*Mitterauer, Warum Europa? S. 108      

Samstag, 24. April 2021

Anna sieht das wie Usama

 “Die keltische Rasse ist … unabhängig, sie sucht keinen Rat und zieht nie geordnet oder nach den Regeln der Kriegskunst zu Felde, doch wann immer es zur Schlacht oder zum Krieg kommt, verspüren sie in ihren Herzen einen unbezähmbaren Drang und lassen sich nicht mehr zurückhalten. Nicht nur die einfachen Soldaten, sondern auch ihre Führer werfen sich unwiederstehlich ins Getümmel inmitten der feindlichen Reihen. … Das lateinische Volk ist äußerst habgierig, doch wenn sie sich vorgenommen haben, ein Land anzugreifen, sind sie zügellos und kennen keine Vernunft.”* 

So die byzantinische Kaisertochter und frühe Historikerin Anna Komnene. Und einen syrischen Kommentator zitiert Bartlett ebenfalls, den muslimischen Emir Usama ibn Munqid, der die Franken charakterisiert als “Bestien, die sich auszeichnen durch Mut und Tapferkeit im Kampf, aber durch nichts weiter.” 

Geschichtsschreibung ist auch heute nicht objektiv, wenn sich allerdings zwei sehr unterschiedliche Kommentatoren recht ähnlich äußern, dann dürften sie ein Stück Wirklichkeit beschreiben. Die fränkischen Kreuzfahrer, die Anna Komnene auch fälschlich Kelten nennt, waren sehr kriegerisch. Und dies war tatsächlich auch ihr Selbstbild, die Adelskrieger sahen sich als unwiderstehliche Kämpfer, “denen Gott den Sieg zum Lehen gegeben hat”. 


*Bartlett, “Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt”, S. 114f.  


Freitag, 23. April 2021

Sklavennahme in Nordengland? Sklavennahme in Pommern?


“Die Männer wurden alle getötet, die Mädchen und Witwen nackt und mit Stricken gefesselt nach Schottland getrieben, wo das Joch der Sklaverei auf sie wartete. … Es waren die ‘Pikten’, also die eingeborenen Schotten, denen die Chronisten in erster Linie die Brutalität ihrer Sklavenjagd vorwarfen. … Pikten und Männern aus Galloway, zu deren Spezialitäten es gehörte, Babys mit dem Kopf gegen Türpfosten zu schleudern …”.*


Die schottischen Invasionen dauerten im 12. Jahrhundert noch an, aber die neue fränkische Militärtechnik bereitete der schottischen Sklavenjagd auf verschiedene Weise ein Ende. Neben den Panzerreitern, gegen die die ungeharnischten Pikten nicht bestehen konnten, war es der örtliche Burgenbau, wie er überall im fränkischen Europa stattfand. Und die neuen Fernwaffen, besonders die durchschlagsstarke und präzise Armbrust, die sowohl im Feld und auch von den Burgmauern herab eingesetzt wurde. Überall, wo Normannen (alias Franken) und Anglonormannen Krieg führten. Und dann auch der missionarische Deutsche Militärorden im Osten antrat, im Baltikum. 


*Bartlett, “Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt”, S. 102

 

Mittwoch, 21. April 2021

War’s das warme Klima? Der gute Wein?

Woher stammte die Dynamik, die den fränkischen Kriegeradel nach Süden in Bewegung setzte? Letztlich sei die Frage ungelöst, meint Bartlett. Das männliche Erstgeburtsrecht spielt jedenfalls eine Rolle. 

“Im Jahre 1185 kamen der Herzog, die Bischöfe und die Barone der Bretagne überein, ‘daß es in Zukunft bei Baronien und Rittergütern keine Teilung mehr geben soll, sondern daß der Erstgeborene den Besitz als Ganzes erhalten soll.’”*

Damit wäre eine Strukturänderung im Spiel, die die männliche Linie stabilisiert und damit die Zukunft der Familie auf ihrem Lehensgrund. Ein Abstieg durch immer kleinere Grundherrschaften durch Teilungen wird ausgeschlossen. Das ist nicht nur in England auch heute noch so. Der Erstgeborene erbt den Titel, daher kann man zum Beispiel bei Churchill die hochadelige Herkunft nicht mehr erkennen. Ohne das Erstgeburtsrecht verarmten anderwo viele Adelsfamilien. Bekam ein Ritter 12 Söhne wie Tankred de Hauteville - ein ungewöhnlicher Fall - dann warf das ein großes Problem auf. Die Hautevilles zogen nach Apulien und ein Enkel - Roger - wurde König von Sizilien. 

Daß diese Südexpansion bis nach Konstantinopel so stark ausfiel, mag auch mit dem damit verbundenen Klimawandel zu tun haben. In Sizilien ist es 3° bis 4°C wärmer als in der Bretagne, das mühsame Heizen entfiel. Die Sonne schien, und der Wein war sehr viel besser als in Frankreich.  


*Bartlett, “Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt”, S. 64f.


Dienstag, 20. April 2021

Auf die Pferde! Her mit dem Lehen!


“Ein andere Meister des Raubzugs aus dem 11. Jahrhundert, Robert Guiskard, stellte seine Gefolgsleute in Süditalien auf die gleiche Weise zufrieden. Nach einem nächtlichen Überfall in Kalabrien, ‘bei dem er den Sieg errang und reiche Beute machte, erhob er seine Fußsoldaten zu Rittern (equites).’ Die Belege für diesen dynamischen Kreislauf von Plünderung, Belohnung, Rekrutierung und weiteren Plünderungen sind Legion. Dabei waren die entscheidenden ‘Karrierestationen’ das Erreichen des Ritterstatus und der Erhalt eines Lehens.”*


Guiskard war ein Normanne und Vasall der Päpste. 

Europa wurde Opfer der arabischen Eroberungen, der Wikingerzüge und der ungarischen Reiterhorden. Den Karolingern gelang es, diesen Trend umzukehren. Wäre Karl von Aachen eine Mischung aus Merkel, Papst Franziskus und Bedford-Strohm gewesen, dann sähe Europa heute gänzlich anders aus. 


*Bartlett, “Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt”, S. 61