Donnerstag, 20. März 2008

Nicht ohne die Naturwissenschaften, Markl

Nicht ohne die Naturwissenschaften
Ein Plädoyer für die umfassende Talentförderung jedes Kindes / Von Hubert Markl

Zurzeit herrscht eine maßlose Kindervergötterung, die den Kindern eher schaden als nutzen könnte. Es tun sich vor allem manche kinderlose Politiker und Politikerinnen und ebenso kinderlose katholische Bischöfe damit hervor, wie großartig sie doch gerade Kinder fänden. Dabei ist noch gar nicht sicher, ob nicht manche der hochgepriesenen Naturschätze, wie wir wissen und immer wieder zu hören bekommen: auch unsere einzigen, später als herangewachsene Drogenabhängige oder U-Bahn-Schläger nicht unbedingt so wertvoll zum Wohl unserer Gesellschaften beitragen werden, wie uns immer wieder verkündet wird.

Bleiben wir also zugleich liebevoll zu Kindern und doch nüchtern. Bei aller Skepsis bleiben viele Kinder immer noch Edelsteine, die uns bereichern, aber ungeschliffen glänzen sie nicht! Und so wie wir Kinder heute formen (oder verformen), werden auch die Erwachsenen von morgen sein. Wer Talente in allen Wissenschaften fördern will, muss möglichst allen Kindern - unserem ganzen Talentvorrat also - dazu helfen, dass sich die wenigen Besten daraus entwickeln können, und das auf allen Gebieten! Daher muss gerade eine Branche, die künftig auf jeden Ingenieur und Naturwissenschaftler angewiesen sein wird, um global wettbewerbsfähig zu bleiben, sich so früh wie möglich dafür einsetzen, dass die Bildung der Kinder in ganzer Breite auch denen unter ihnen hilft, die später als Techniker die Erfinder der Zukunft und als Ingenieure ihre Probleme lösen können.

Zwar mag man immer wieder versucht sein, diese wenigen besonders früh zu erkennen, um sie besonders gut - wie man heute gerne sagt: an Eliteeinrichtungen - fördern zu können, aber wir könnten dabei nur allzu leicht dem Fehler verfallen, die Zukunft für eine bessere Vergangenheit zu halten. Wir können ja eine solche Talentauslese immer nur aus den Erfahrungen der Vergangenheit extrapolieren. Die wirklich kreativen Neuerer, jene also, von denen unser Wohlergehen künftig besonders abhängen wird, zeichnen sich eben dadurch aus, dass sie nicht das Alte bestens repetieren und reparieren, sondern das Neue denken können, das eben deshalb neu ist, weil es vorher noch keiner vorhersah. Breitenbildung für alle dazu Fähigen und Freiheit, auf ihrer Grundlage Neues zu suchen, bleibt daher der sicherste Weg, im unbekannten Terrain neue Wege zu finden.

Das gilt auch für die ausländischen Schüler in Deutschland. Noch so geläufige Sprachkenntnis und gute Schulbildung, sogar Mindestlöhne für alle jungen Menschen im Arbeitsleben sind noch lange kein Beweis für gelungene Integration. Erst wenn Menschen der verschiedensten Herkunft in gleicher Weise Anteil an unserem ganzen gesellschaftlichen Leben, auch an Kultur und Politik, haben, können wir des Integrationserfolges - mit unvermeidlichen Ausnahmen, aber kriminelle Ausrutscher gibt es ja auch unter jahrhundertlang Zugehörigen unter uns immer wieder - einigermaßen sicher sein.

Einerseits sollten wir die Aufnahmebereitschaft und Integrationskraft unserer alternden Gesellschaft nicht überschätzen, mag der wirtschaftliche Bedarf noch so groß sein. Andererseits dürfte die Entwicklung bald ähnlich wie in Osteuropa verlaufen: Die wirklich qualifizierten Kräfte werden in den Heimatländern genauso dringend gebraucht, um dort die wirtschaftliche Entwicklung weiter voranzubringen, denn das Kapital wandert leichter zu ihnen. So wie wir durch Freizügigkeit gewinnen, verlieren wir auch durch sie. Solchen Austausch müssen wir fördern und wünschen, aber der Bedarf an Arbeitskräften wird dadurch sicher nur wenig gemildert. Durch geschickte Werbemaßnahmen könnten viel mehr Menschen, Männer wie Frauen, aus den weniger produktiven Bereichen in die Ingenieurberufe gelockt werden, wo sie doch dringend benötigt werden. Es wäre allerdings eine Illusion zu glauben, unter all den Geistes- und Sozialwissenschaftlern wären viele Ingenieurstalente verborgen, die man nur ordentlich herauslocken müsste. Es ist nämlich eine recht seltsame Erfahrung: Talente für Maschinenbau oder Flugzeugtechnik, Werkstoffentwicklung oder Chemieprozesse, Atomphysik oder Biochemie entwickeln sich schon heute meist überwiegend aus eigener Befähigung und Neigung, genauso wie andere Berufsarten, und noch so viel Hingerede macht aus einem geborenen Historiker oder Journalisten noch lange keinen geborenen Lasertechniker oder Chirurgen. Da gibt es eine Zähigkeit der Variation unter menschlichen Talenten, die gerade bei Spitzenkräften oft jede Vorstellung beliebiger Ersetzbarkeit scheitern lässt.

In Deutschland wurden 2007 die Geisteswissenschaften besonders gewürdigt - manche meinen schon: geradezu mit Selbstglorifikation überschüttet -, immer begleitet von forderungsvollen Gesängen, die Geisteswissenschaftler seien doch weit unterschätzt und grob unterfördert (vermutlich so lange, bis auch der letzte Student sich für Philosophie oder Literaturwissenschaft inskribiert hat). Insofern entbehrt es nicht einer gewissen Logik, wenn nun 2008 bei uns auf das Jahr der Geisteswissenschaften jenes der Mathematik folgt. Denn wir wissen, dass ohne Fortschritte in der Mathematik kein Fortschritt in den angewandten Natur- und Technikwissenschaften möglich wäre. Es war durchaus richtig, ein Jahr lang hervorragende Leistungen der Geisteswissenschaften herauszustellen, solange man keine falschen Schlussfolgerungen daraus zieht. Es könnte sich nämlich durchaus erweisen, dass es den Geisteswissenschaften umso besser geht, je mehr die Natur- und Technikwissenschaften in einer Gesellschaft gefördert werden! Weil diese jene Gewinne zu erwirtschaften erlauben, die es uns erst gestatten, die großen Kulturbeiträge der Geisteswissenschaften zu fördern und unverzichtbare Kulturgüter wie Bibliotheken, Archive und Sammlungen zu erhalten und allen öffentlich zugänglich zu machen. Und nicht etwa umgekehrt! Wir müssen unseren Talentvorrat an Menschen in jeder möglichen Hinsicht durch hervorragende und vielseitige Bildung und Ausbildung nutzen und dürfen die Nachwuchstalente nicht durch unbegründete Bedenken in ihrer Entwicklung hemmen.

Hubert Markl ist emeritierter Professor für Zoologie in Konstanz und war Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Max-Planck-Gesellschaft.
Die wirklich Kreativen
müssen in Freiheit das Neue denken können.

Text: F.A.Z., 20.03.2008, Nr. 68 / Seite 8

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