Sonntag, 13. Juli 2008

Afghanistan, Ahmed Rashid

Ein Gespräch mit dem pakistanischen Publizisten Ahmed Rashid
Die Deutschen sollten sich nicht weigern, zu kämpfen
Ahmed Rashid ist Pakistans berühmtester Journalist. In seinem Buch "Descent into Chaos" beschreibt er die Lage Afghanistans seit dem Sturz der Taliban. Die Europäer, so Rashid, hätten die Größe des Konflikts nicht erkannt.

FRAGE: Ihr Buch erscheint zur rechten Zeit. In Kabul hat es den schwersten Bombenanschlag seit dem Rückzug der Taliban gegeben, mit mehr als vierzig Toten. Gerade erst drohte die pakistanische Stadt Peshawar in die Hände islamistischer Extremisten zu fallen. Was geht dort vor?

ANTWORT: Einige Milizen haben sich seit Monaten vor Peshawar zusammengezogen, aber die pakistanische Armee lehnte es ab, gegen sie vorzugehen. Nun hat die Armee gehandelt, allerdings mit paramilitärischen Verbänden, nicht regulären Truppen, und die Milizen ein paar Meilen zurückgedrängt. Aber weder wurden sie zerschlagen noch ihre Anführer verhaftet. Das zeigt die Schwäche des pakistanischen Militärs, das die Politik gegenüber Afghanistan bestimmt. Die Extremisten schikanieren die Bevölkerung. Viele Menschen sind aus Peshawar geflohen, die Reichen und die Mittelschicht bringen ihre Familien nach Islamabad. Geschäftsleute werden gekidnappt, Läden schließen, Recht und Ordnung werden untergraben.

FRAGE: Wie arbeitet man dort als Journalist?

ANTWORT: Ich war kürzlich in Peshawar, und die Lage ist sehr angespannt, vielleicht schlimmer als in Kabul. Taliban laufen auf den Straßen herum und gängeln die Bevölkerung. Aber zumindest hat sich das nicht auf andere Teile des Landes ausgedehnt, sondern beschränkt sich derzeit auf die Nordwestprovinz.

FRAGE: Sie sind Gefahr allerdings gewohnt.

ANTWORT: Das stimmt, ich berichte seit den achtziger Jahren aus Afghanistan, und es war ein Krieg nach dem anderen: die sowjetische Invasion, das Ende des kommunistischen Regimes von Mohammed Nadschibullah, dann der sehr brutale Bürgerkrieg unter den Mudschahedin, der das Land zerstörte, der Aufstieg der Taliban und ihr Krieg mit der Nord-Allianz und nun ihr neuerlicher Aufstand.

FRAGE: Wie ist es Ihnen möglich, in einem permanenten Kriegsgebiet zu arbeiten?

ANTWORT: Ich bin unter den Afghanen sehr bekannt, unter anderem durch meine Arbeit für die BBC und deren Fremdsprachendienste. Ich habe mich immer für die Sache Afghanistans eingesetzt und mich deutlich für Frieden und Stabilität ausgesprochen. Nachdem mein Buch über die Taliban erschien, war ich allerdings ein bisschen vorsichtig mit ihnen. Heute ist es so gut wie unmöglich, sie zu treffen.

FRAGE: Mindestens in einem Fall wurde ein Kopfgeld auf Sie ausgesetzt.

ANTWORT: 1986 war ich einer der Ersten, die aufdeckten, dass der pakistanische Militärgeheimdienst siebzig Prozent der amerikanischen CIA-Gelder, die zu gleichen Teilen unter den Mudschahedin verteilt werden sollten, an Gulbuddin Hekmatyar gab, der mehr afghanische Mudschahedin tötete als Russen. Nachdem ich das aufgedeckt hatte, setzte er ein Kopfgeld aus und verurteilte mich damit zum Tode. Ich tauchte einige Monate unter.

FRAGE: Waren Sie später in ähnlicher Lage?

ANTWORT: Als mein Taliban-Buch herauskam, war das pakistanische Militär nicht sonderlich glücklich. Unter dem Präsidenten Pervez Musharraf wurden seit 2002 islamistische Parteien gefördert, und die mögen mich auch nicht besonders. Für das pakistanische Establishment bin ich eine polarisierende Gestalt. Viele schätzen, was ich schreibe, denn ich schreibe die Wahrheit, und sie haben genug von der Politik, die das Militär verfolgt - extremistische Gruppen zu unterstützen, ob in Kaschmir oder Afghanistan.

FRAGE: Sie scheinen so gut wie jeden in der Region zu kennen.

ANTWORT: Nun, nicht jeden. Musharraf zum Beispiel hat es viele Jahre abgelehnt, mich zu treffen, und als es dann doch - ein einziges Mal - dazu kam, hat er versucht, mich zu überzeugen, dass ich nicht länger über die Unterstützung Pakistans für die Taliban schreibe. Ich habe ihm gesagt: Wenn ich das tue, glaubt mir niemand, und überhaupt denkt heute niemand mehr, dass Pakistan die Taliban nicht unterstützt.

FRAGE: Hatten Sie noch andere Schwierigkeiten mit Gesprächspartnern?

ANTWORT: Der einzige Afghane, mit dem ich Probleme hatte, war General Abdul Rashid Dostum, der Usbekenführer. Ich schrieb in meinem Buch von einem Vorfall, den ich als Augenzeuge miterlebt hatte, als er einen Mann exekutierte, indem er ihn mit einem Panzer überfuhr. Jeder Journalist, der ihn seither interviewt, spricht ihn darauf an, was ihn sehr ärgert. Er hat sogar behauptet, er hätte mich nie getroffen. Dabei gibt es einige Fotografien, auf denen Dostum und ich gemeinsam zu sehen sind. Davon abgesehen hatte ich stets gute Beziehungen zu allen Afghanen.

FRAGE: Auch zu den Taliban?

ANTWORT: In den neunziger Jahren war ich einer der wenigen, die über sie schrieben, und sie waren überhaupt nicht schwierig - sehr seltsam allerdings, und sie mochten die Medien nicht, aber sie waren nie feindselig. Die Stimmung änderte sich 1996, als die Araber kamen und Usama Bin Ladin ein enges Verhältnis zu dem Taliban-Führer Mullah Omar entwickelte. Als mein Taliban-Buch Ende 2000 herauskam, instruierte der Geheimdienst ISI die Taliban, mich aus Afghanistan zu verbannen. Die letzten neun Monate vor dem 11. September 2001 konnte ich weite Teile Afghanistans nicht mehr besuchen, aber ich war bei der Nord-Allianz. Heute sind die Taliban zur Terrorgruppe geworden, sie exekutieren Leute, enthaupten sie, foltern und töten Zivilisten, unter dem Einfluss von Al Qaida. Damit ging es erst 2003, 2004 los, als ihr Aufstand neuerlich begann.

FRAGE: Als sie die Macht hatten, waren die Taliban aber auch nicht gerade für ihre gütige Regierungsweise bekannt.

ANTWORT: Nein, das waren sie nicht, sie hatten ihre Feinde, sie massakrierten die Nord-Allianz, sie töteten eine Menge Leute, aber sie unternahmen keine Selbstmordattentate. Sie waren eine brutale Macht, aber auch auf Seiten der Nord-Allianz gab es jede Menge Brutalität. Nun sind ihre Taktiken noch viel schlimmer geworden.

FRAGE: Denken Sie, die internationalen Medien berichten ausreichend über die Lage?

ANTWORT: Ich glaube, dass sich insbesondere die Fernsehnachrichten verschlechtert haben, gerade in den Vereinigten Staaten. Nach 2001 war ich voller Hoffnungen, ich besuchte eine Reihe von Medienkonferenzen in den Vereinigten Staaten, und dort fühlten sich viele schuldig, dass sie so wenig über die Taliban wussten, und versprachen, mehr zu tun. Aber nun scheinen die Amerikaner zu ihrem vorherigen Zustand zurückgekehrt zu sein, wenn es nicht sogar noch schlimmer geworden ist.

FRAGE: Wer ist in erster Linie für das heutige Chaos verantwortlich?

ANTWORT: Die Ursünde hat die Bush-Regierung begangen, als sie nur Wochen nachdem sie die Taliban vertrieben hatte, sich zum Krieg gegen den Irak entschied und die nächsten Jahre Afghanistan praktisch aufgab. Erst seit 2004 tat sich wieder etwas, gab es mehr Truppen, Geld und Ressourcen. Die Amerikaner sagten ihren Verbündeten in der Region zunächst: Verfolgt Al Qaida, die Taliban interessieren uns nicht. Das gab Pakistan die Möglichkeit, den Taliban Zufluchtsorte zu gewähren und ihnen zu gestatten, sich neu zu formieren. Das Militär meinte, das sei im eigenen Interesse: Vielleicht würden die Amerikaner Afghanistan schnell verlassen, und für den Fall wollte Pakistan seine loyale Stellvertreter-Streitmacht, um die Herrschaft zu übernehmen. Sie waren auch besorgt über das stärkere indische Engagement in Afghanistan.

FRAGE: Hat das westliche Engagement in Afghanistan überhaupt Positives bewirkt?

ANTWORT: Natürlich. Es gibt Fortschritte im sozialen Bereich, bei Gesundheit und Bildung, Straßen werden gebaut. Das war meiner Meinung nach die Crux, dass die Infrastruktur nicht schnell genug aufgebaut wurde. Ohne sie kann man die Wirtschaft nicht ankurbeln. Nach sieben Jahren hat Afghanistan immer noch keine Stromversorgung - nur in sechs Prozent des Landes gibt es Elektrizität, kaum in den großen Städten. Wie kann man da Betriebe aufbauen?

FRAGE: Präsident Karzai gilt vielen als unfähig.

ANTWORT: Einerseits hat die amerikanische Politik ihn handlungsunfähig gemacht, weil die Amerikaner zunächst nicht in das Land investierten. Andererseits stimmt es, dass Karzai nicht hart genug gewesen ist gegenüber Korruption, Rauschgiftanbau und den Warlords. Er hat zu viele Kompromisse gemacht. Nach seiner Wahl 2005 war er in einer starken Lage, da hätte er schärfer durchgreifen können. Hinzu kommt, dass Karzai sehr verbittert über die Rückzugsgebiete in Pakistan ist, und die internationale Gemeinschaft hat das ignoriert. Das ändert sich gerade, aber viele wollen bis heute nicht darüber reden, zum Beispiel die Deutschen. Bald sind 4500 deutsche Soldaten im Land, aber die deutsche Politik erkennt die Tatsache der pakistanischen Rückzugsgebiete nicht an.

FRAGE: Was halten Sie insgesamt von dem deutschen Engagement?

ANTWORT: Ich bin sehr kritisch, was die Weigerung der Deutschen angeht, zu kämpfen oder in den Süden zu gehen. Sie haben eine der besten Armeen in Europa. Im Norden machen sie ihre Sache gut, aber die Soldaten unterliegen so vielen Beschränkungen, dass das deutsche Prestige gelitten hat. Zum anderen haben die Deutschen noch nicht verstanden, dass man eine regionale Strategie braucht. Pakistan ist Teil des Problems, man kann das nicht unter den Teppich kehren.

FRAGE: Gibt es eine militärische Lösung?

ANTWORT: Natürlich nicht. Aber der erste Punkt auf der internationalen Agenda muss das Ende der Rückzugsräume der Taliban sein. Eine Guerrillatruppe kann man nur besiegen, wenn man um ihre Größe weiß. Wenn sie eine Basis außerhalb des Landes hat und unbeschränkten Nachschub an Männern, Munition und Verpflegung, kann man sie nicht besiegen.

FRAGE: Und Sie denken, das ist zu bewerkstelligen? Musharraf und andere sagen, es sei sehr schwierig, die Verstecke lägen in unzugänglichem Terrain.

ANTWORT: Das ist Unsinn. Die Führung der Taliban lebt in der Provinz Baluchistan, nicht in den Bergen, sondern in und um die Stadt Quetta. Man könnte sie verhaften und ihre Verbindungen zu ihren Kommandeuren in Afghanistan abschneiden. Natürlich ist noch mehr notwendig: die Verbesserung der Sicherheitslage in Afghanistan, und das bedeutet: mehr kämpfende Truppen. Das Wiederaufbauprogramm muss fokussierter sein. Es herrscht große Verschwendung und Korruption. Die Organisation Oxfam schätzt, dass vierzig Prozent der amerikanischen Unterstützung in die Vereinigten Staaten zurückfließen, zum Beispiel in Form von Gehältern für bewaffnete Personenschützer, und das ist eine schlimme Zahl: Wenn vierzig Prozent nach Amerika zurückgehen, was bleibt dann für die Afghanen übrig? Die westlichen Geberländer haben kein gutes Bild abgegeben: kaum Koordination, viele Dopplungen. Und schließlich müssen der Regierung in Kabul bestimmte Ziele gesetzt werden.

FRAGE: Wie wird sich Pakistan überzeugen lassen, gegen die Taliban vorzugehen?

ANTWORT: Der Westen braucht eine geschlossene Politik, er muss den eigenen Öffentlichkeiten reinen Wein einschenken und auch dem pakistanischen Volk und das Militär mit einer Mischung aus Druck und Anreizen zur Kursänderung bewegen. Eine Möglichkeit wäre, Indien dazu zu bringen, in der Kaschmir-Frage flexibler zu sein und eine schnelle Lösung zu suchen, das würde die pakistanische Angst vor indischer Einmischung in Afghanistan stark mindern.

FRAGE: Sie glauben also, dass man den Extremismus besiegen kann?

ANTWORT: Man muss begreifen: Es geht nicht länger nur um den Krieg in Afghanistan. Das Ganze hat sich zu einem vielschichtigen, regionalen Konflikt ausgeweitet. Wir haben es mit dem Ausgreifen der Extremisten über die ganze Region zu tun. Der Westen muss sich anpassen. Er kann sich nicht länger nur auf Afghanistan konzentrieren, wie es die Deutschen tun, die in Mazar-i-Sharif sitzen und nicht nach rechts oder links über die Grenzen schauen, was in Iran und Pakistan passiert.

FRAGE: Denken Sie, der frühere deutsche Verteidigungsminister Struck hatte recht mit dem Satz, dass Deutschland seine Freiheit am Hindukusch verteidigt?

ANTWORT: Das ist eine wichtige Aussage, für alle von uns - für Pakistan, für die Länder der Region, für Europa. Jede terroristische Verschwörung, jeder Anschlag in Europa seit 2003 lässt sich in die pakistanischen Stammesgebiete zurückverfolgen. Jeder europäische Staat hat heute ein Problem mit einheimischem Extremismus, und der erhält Inspiration und Ausbildung aus der pakistanisch-afghanischen Grenzregion.

FRAGE: Für wie lange werden westliche Truppen in Zentralasien präsent sein?

ANTWORT: Ich kann Ihnen das Datum nicht sagen, aber mit Sicherheit viele, viele Jahre.

FRAGE: Die Mehrheit der Deutschen ist gegen den Afghanistan-Einsatz.

ANTWORT: In Deutschland hat die Regierung versäumt, Öffentlichkeit und Parlament über den wahren Charakter der Bedrohung aufzuklären. Viele denken wohl, dass die Deutschen auf Geheiß der Amerikaner in Afghanistan sind, dass dies Amerikas Krieg ist. Aber das stimmt nicht - im Gegensatz zum Irak. Der Irak ist gewissermaßen ein Nebenschauplatz, der Konflikt wird über kurz oder lang regional von den Arabern mit den Amerikanern gelöst. Aber der Krieg in Zentralasien ist global in seinen Dimensionen, und er geht die Deutschen direkt an.

Das Buch Descent Into Chaos. How the war against Islamic extremism is being lost in Pakistan, Afghanistan and Central Asia von Ahmed Rashid ist bei Penguin Books erschienen.

Das Gespräch führte Henning Hoff.


Text: F.A.Z., 09.07.2008, Nr. 158 / Seite 36

Keine Kommentare: