Dienstag, 26. Mai 2009
Geburtenförderung, Ressourcenknappheit und Überbevölkerung
Schweiz: Leben im Gedränge. Zeltstadt am Gurten-Festival 2007. (Bild: Reuters)
- «Wirtschafts-, nicht Bevölkerungswachstum braucht das Land»
Über staatliche Geburtenförderung, Ressourcenknappheit und Überbevölkerung
Der Staat kann und soll zur Sicherung der Renten keine Geburtenförderung betreiben, meint der Ökonomieprofessor Reiner Eichenberger. Die Schweiz leide vielmehr unter dem Bevölkerungswachstum. Dieses verursache der Gesellschaft enorme Kosten.
23. Mai 2009, Neue Zürcher Zeitung, Interview: crz.
Herr Prof. Eichenberger, braucht die Schweiz mehr Kinder, um die AHV zu retten?
Reiner Eichenberger: Auf keinen Fall. Aus sehr sorgfältigen Untersuchungen im Auftrag des Bundes – nämlich aus sogenannten Generationenbilanzen – wissen wir, dass heute im Durchschnitt ein Kind über sein ganzes zukünftiges Leben gerechnet mehr Leistungen und Transfers vom Staat erhält, als es an ihn mit all seinen Steuern und Abgaben bezahlt. Rein finanziell betrachtet kostet ein Kind die Gemeinschaft im Durchschnitt also mehr, als es ihr bringt. Wenn man dazurechnet, dass seine Mutter wegen Geburt und Erziehung oft weniger arbeitet und Steuern zahlt, sieht die Nettobilanz pro Kind noch negativer aus. Finanziell lohnend für die Gemeinschaft sind nur besonders produktive Menschen, die wegen des progressiven Steuersystems weit überproportional für die öffentlichen Lasten aufkommen. Wenn wir eine Politik verfolgen, die vor allem Durchschnittsbürger erzeugt, dann ist das für die Sicherung der AHV sogar schädlich.
Kindergeld für die Reichen
Soll die Politik also vor allem die Gutverdienenden dazu anhalten, mehr Kinder zu bekommen?
Nur, falls man Kinder für Milchkühe hält! Milchkühe muss man gezielt selektionieren. Da produktivere Eltern im Durchschnitt auch produktivere Kinder haben, müsste man tatsächlich gezielt die Fertilität produktiver Eltern steigern.
Sind diese Kinder wegen der langen Ausbildung nicht auch teurer?
Allfällige Mehrkosten werden durch die Mehreinnahmen mehr als ausgeglichen. Zudem ist die Ausbildung besonders produktiver Kinder zwar teuer, die Ausbildung weniger produktiver Kinder ist aber oft noch viel teurer. Ein Gymnasiast, das stimmt, kostet viel. Die Berufsschulen für viele Lehren kosten aber mehr, und manche Studiengänge – etwa Ökonomie – sind im Vergleich zu anderen geradezu billig. Zumeist ist ein Kind, das Sonderbetreuung braucht, teurer. Am teuersten wird es, wenn ein Kind später eine kriminelle Karriere einschlägt. Wenn man also behauptet, wir brauchen mehr Kinder für die AHV, müsste man diese Zusammenhänge berücksichtigen und die «richtigen» Kinder zuerst selektionieren und später effizient melken. Das halte ich für eine schreckliche Vision. Ausserdem traue ich dem Staat nicht zu, dass er das richtig machen könnte. Wenn eine Geburtenförderungspolitik gemacht wird, haben in der Regel eben nicht die produktiven Eltern mehr Kinder.
Soll der Staat gar keine Familienpolitik machen?
Familienpolitik ist sowieso überall, in der Steuerpolitik, der Bildungspolitik, der Gesundheitspolitik, der Verkehrspolitik usw. Da sollte man keine zusätzliche aktive Kindergeld-Politik machen. Wenn doch, müsste man vermeiden, dass die Massnahmen primär die unproduktiven Kinder subventionieren. Von einer aktiven Geburtenförderungspolitik halte ich aber nichts.
Kann mehr Kindergeld die Geburtenrate überhaupt beeinflussen?
Aufgrund ausländischer Erfahrungen weiss man, dass der Einfluss auf die Geburtenrate insgesamt sehr bescheiden ist. Aber die Geburten werden verlagert. Je grosszügiger der Staat Eltern in schwierigen finanziellen Verhältnissen unterstützt, sei es durch Kindergeld oder sonstige Subventionen, desto früher haben die Eltern Kinder, unter Umständen zu einem Zeitpunkt, da sie es sich ohne staatliche Zuwendung noch nicht leisten könnten. Zum Beispiel als «armer» Student. Das verursacht dem Staat hohe Kosten. Diese Auswirkungen des Kindergelds sind massiv, aber es wird nicht ernsthaft darüber gesprochen, weil man Gefahr läuft, in die politisch unkorrekte Ecke gestellt zu werden.
Oft wird behauptet, Kinder seien ein Armutsrisiko. Gleichwohl bekommen die unteren sozialen Schichten mehr Kinder als die höheren. Warum?
Grundsätzlich ist es mit Kindern wie mit allen schönen Dingen des Lebens: Wer reich ist, will mehr davon. Bei den Kindern kommt zusätzlich dazu, dass mit dem Einkommen auch die Kosten für die Kinder steigen. Je höher das Einkommen insbesondere der Frau, desto grösser ist der mit Kindern verbundene Verdienstausfall. Zudem haben reiche Eltern aufgrund ihres Lebensstils massiv höhere Ausgaben für ihre Kinder. Deshalb haben Gutverdienende oft weniger Kinder.
Müsste man ihnen also mehr Kindergeld geben?
Wenn man Gutverdienenden bessere Anreize geben will, sollte man ihnen nicht zusätzliches Geld hinterherwerfen, sondern man sollte zuerst die bestehenden negativen Anreize abbauen. So könnten Kinderabzüge und Abzüge für Fremdbetreuung erhöht werden. Noch besser wäre es, die Grenzsteuersätze für gut verdienende Eltern zu senken, etwa durch einen Elterntarif oder ein Splitting mit Kindern als Splittingfaktor.
Die Kosten der wachsenden Bevölkerung
Soll ein dichtbesiedeltes Land wie die Schweiz überhaupt Geburten fördern?
Nein, absolut nicht. Natürlich sind die eigenen Kinder für die Eltern das Grösste. Aber die Kinder anderer sind nicht immer so grossartig. Wenn gesagt wird, Kinder seien wichtig für die Gesellschaft, blendet man aus, dass es mit Kindern auch viel Ärger gibt. Es stimmt zudem überhaupt nicht, dass eine Gesellschaft durch Kinder innovativer wird. Wäre das so, müsste zum Beispiel Mexiko höchst innovativ sein. Und von Japan – einer «alternden Gesellschaft» – zu behaupten, es sei nicht innovativ, wäre schlicht absurd. Die Angst, dass wir dereinst zu wenig Junge für die Pflege all der Alten haben, ist unangebracht. Es wird immer Junge geben, und auch der technische Fortschritt wird Lösungen bringen. Bevölkerungswachstum hingegen wird der Gesellschaft enorme Kosten verursachen.
Welche?
Eine wachsende Bevölkerung führt zu dichterer Besiedlung, zu Landverschleiss, erfordert hohe Investitionen in die Infrastruktur, führt zu Lärm und Stress – man denke nur an die Verkehrsprobleme. Strassen und Züge – alles ist überfüllt. Die Schweiz hat europaweit das höchste Bevölkerungswachstum. Im Kanton Zürich beträgt es 2 Prozent. Wie soll das weitergehen? In einer solchen Situation zu behaupten, dass wir mehr Kinder brauchen, ist völlig unsinnig.
Warum hat es etwas Anrüchiges, über Überbevölkerung zu reden?
Weil bei diesem Thema eine gewisse Nähe zur Ausländerfeindlichkeit besteht. Dieses Thema hat die SVP gepachtet, weil die anderen Parteien nicht fähig waren, auf die Probleme, die es in diesem Bereich gibt, ernsthaft einzugehen. Die heutige Einwanderung sieht allerdings anders aus. Heute kommen vor allem gut qualifizierte, produktive Einwanderer. Und das heisst: bauen, bauen, bauen. Davon kann das Gewerbe, das politisch von der SVP vertreten wird, profitieren.
Brauchen wir eher eine Ressourcen- statt eine Familienpolitik?
Zumindest brauchen wir dazu einen gesellschaftlichen Diskurs. Und dafür braucht es eine solide Datenbasis. Man sollte endlich aufhören, einfach zu behaupten, dass wir der Einwanderung das Wirtschaftswachstum verdanken. So hat unsere Regierung noch im letzten Herbst ein im internationalen Vergleich gutes Wachstum von 0,5 Prozent ausgewiesen und behauptet, dass das auch eine Folge der Einwanderung sei. Bereinigt um das starke Bevölkerungswachstum von 1,4 Prozent, hatten wir aber damals längst eine Wirtschaftsschrumpfung um 1 Prozent pro Kopf. Wenn man noch berücksichtigt, dass die überdurchschnittlich produktiven Einwanderer auch überdurchschnittliche Löhne haben, war der Einkommensrückgang pro bisherigen Einwohner noch dramatischer. Wo sind also die positiven Effekte der Einwanderung? Die Regierung sollte wieder vermehrt kopfrechnen.
Was würde passieren, wenn die Bevölkerung in der Schweiz schrumpfen würde?
Ich sehe darin kein Problem. Leere Wohnhäuser wird es jedenfalls nicht geben. Einkommen und Lebensstandard und damit auch die Nachfrage nach Wohnraum steigen auch bei schrumpfender Bevölkerung. Das Gleiche gilt für den Schul- und den Verkehrsbereich. Unser Problem ist die Überbevölkerung. Natürlich können wir in der Schweiz 20 Millionen Einwohner unterbringen. Dann wäre die Schweiz einfach eine sehr grosse Stadt, was nicht nur schlecht sein muss. Das Problem aber ist der Wachstumsprozess. Bevölkerungswachstum verursacht enorme Kosten. Wir sollten auf Wirtschaftswachstum setzen, nicht auf Bevölkerungswachstum.
Wenn der Staat also den Kindersegen nicht fördern soll, wie kann er Kinder sinnvoll unterstützen?
Es gibt aus Sicht der Gesellschaft nichts Schlimmeres, als wenn Kinder später nicht für sich selber sorgen können. Deshalb soll man in die geborenen Kinder investieren. Sie sollen in geordneten Verhältnissen und stressfrei aufwachsen können. Man sollte Eltern die Möglichkeit geben, Kinder dann zu bekommen, wenn die Verhältnisse stimmen und die Eltern selber einen möglichst grossen Beitrag zum Wohlergehen ihrer Kinder leisten können.
Die Alterung – ein Weg zum Glück
Ist die alternde Gesellschaft also kein Schrecken?
Im Gegenteil. Mit steigender Lebenserwartung nimmt auch die Zahl der guten Lebensjahre zu. Die Menschen werden älter, weil sie gesünder sind, also auch länger fit bleiben und produktiv sein können. Deshalb nimmt mit der Alterung nicht nur die Jugendlast, sondern auch die Alterslast ab. Wenn wir es schaffen, das Pensionsalter klug zu flexibilisieren, ist die alternde Gesellschaft ein Weg zum Glück.
Was halten Sie von der Idee, Kinderlosen höhere AHV-Abzüge aufzuerlegen?
Nichts. Eine Besteuerung der Kinderlosigkeit wäre ja nur dann sinnvoll, wenn durch Kinderlosigkeit Kosten für die Gesellschaft entstünden. Das trifft aber nicht zu. Die Kinderlosen sind nicht die Bösen.
Reiner Eichenberger ist Ordinarius für Finanzwissenschaft an der Universität Freiburg / CH und Vater von zwei Kindern.
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