Die Merseburger auf Pergament
(Bild: Wiki.)
Im Hintergrund lauert der
Satz vom Grunde. Es regnet, weil … Die Pest wütet, weil … Weiß der Mensch den
Grund, fühlt er sich besser, und besser gewappnet. Es regnet, weil der
Häuptling den Regentanz aufgeführt hat. Die Pest wütet, weil die Stadt gesündigt
hat. Die Kenntnis der Gründe stärkt. Besonders dann, wenn tatsächlich
identifizierbare Gründe und Kräfte wirken. In einfachen Beziehungsgefügen, die
dem Experiment zugänglich sind, lassen sich echte Gründe herausfinden. Bei
komplexen Wirkungszusammenhängen nicht mehr. Dann schlägt die Stunde der
Dichtung. Wir wissen nicht, woher wir kommen? Der Sonnengott hat uns gezeugt.
Die Bäume sterben? Le WALDSTERBEN. Ein Loch oben im Ozon? Die
Fluorkohlenwasserstoffe.
Die zehnstellige
Telefonnummer können wir gerade noch aus dem Kurzzeitgedächtnis eingeben, nach
ein paar Minuten ist sie meist vergessen. An mehrere Gegenstände gleichzeitig
können wir nur undeutlich denken. Zwar sind die individuellen Unterschiede
groß, aber das Kurzzeitgedächtnis ist immer begrenzt. Daher sind auch die
Verstehensmöglichkeiten begrenzt. Sie sind sogar bei vielen Menschen so eng
ausgefallen, daß sie sich auch bei schwierigen, schwer durchschaubaren Dingen
unbedingt einen kurzen Reim machen wollen. So etwa:
So
Beinrenkung, so Blutrenkung,
so
Gliedrenkung:
Bein zu
Bein, Blut zu Blut,
Glied zu
Glied, wie wenn sie geleimt wären
(Merseburger Zaubersprüche,
9./10. Jht.)
Die B-Anlautungen liebt das
Gedächtnis, und Paar-Reime besonders:
Ach, was muß man oft von
bösen
Buben hören oder lesen.
(Busch)
Kurz und knapp und gereimt,
das geht sogar gern ins Langzeitgedächtnis und kann Jahrzehnte dort überdauern.
Darin liegt der Reiz der Dichtung, daß sie Komplexität reduziert und Langes
verkürzt. Und mit Bildern verrührt. Denn eben, wo Verständnis fehlt, da hilft
ein Bild gewaltig weiter, kann man, abgewandelt, mit Goethe dazu sagen. Und das
Ganze dann noch in Klatsch, Tratsch und Sex gegossen, ob Courths-Mahler oder
Grass, je nach Gefühls- und Niveaubedürfnissen, schon hat man die gesamte
Literaturgattung beisammen.
Daran ist nichts besonders
Geheimnisvolles. Es gefällt, weil es angenehm unterhält. Auf allen
Unterhaltungsstufen. Und in allen Bereichen.
Auch für Sternenfreunde
wird gereimt:
Ach,
Sternlein dort
Ach,
Sternlein dort,
Am
Himmelsort,
Du
glänzest so alleine
Und
scheinest nur so kleine.
Und
sprich, was geht denn dorten vor,
Doch mach’
mir keine Wippchen vor,
Ist es
denn dort erquicklich?
Und lebt
man dorten glücklich?
…
(Friederike Kempner)
Arnando Benini
macht es sich in der NZZ (30.8.13) ein bißchen schwer mit seinen Hirn-Kunst-Betrachtungen,
ohne zum Kern der Literatur, der Komplexitätsreduktion und der
Unterhaltungsfunktion, vorzustoßen. Daher stammt sowohl ihre kognitive
Beschränkung, wenn nicht gar Bedeutungslosigkeit, als auch ihre emotionale Verführungskraft. Auch die Politik dichtet gern, im weitesten Sinne, wie
Wagner, und macht TamTam dazu, wie in Wagners “Götterdämmerung”. Und Politiker
scheinen lieber in die Wagnerei zu gehen, als in Mozarts “Cosi fan tutte”.
Selbstverständlich kann man sich überall seine Gedanken machen und erkennend tätig sein, in Betrachtung einer Straßenbahn ebenso wie bei einem schwarzen Malewitsch-Quadrat - und auch bei Lyrik:
Eure Etüden
Eure Etüden,
Arpeggios, Dankchoral
sind zum Ermüden
und bleiben rein lokal.
Das Krächzen der Raben
ist auch ein Stück -
Dumm sein und Arbeit haben:
das ist das Glück.
...
Gottfried Benn